Montag, 31. August 2009

Abea


Die folgende Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten “Mein außerirdischer Liebhaber” bei der dorante Edition.:

Abea (1)


Möchte ich in fremden Gehirnen lesen können, vor allem jetzt in seinem – wo ich sowieso schon zu viel weiß? Für meinen Beruf wäre es von Vorteil. In diesem Fall aber …. Nein, wahrscheinlich möchte ich es nicht.
Ich leite den Mann zu dem Platz, an den er sich in den Sitzungen gewöhnt hatIch ahne, was wirklich war, aber sträube mich, wie er, gegen die Wahrheit.
Er hatte sich freiwillig gemeldet. Sondereinsatz, Sonderprämie. Sie übertrugen die Erfahrungen ihrer langjährigen überlegenen Demokratie auf das Land dieses Diktators. Klar, wurde auf sie geschossen, mussten sie für Ordnung sorgen, Waffen einsetzen, die mit Splittern und mit Strahlen alle potentiellen Mörder und Terroristen für immer handlungsunfähig machten. Dann entstanden schon einmal Berge von Menschenteilen, die sie nicht liegen lassen konnten. Schließlich waren sie hier, um Ordnung zu bringen. Und er war dran, im Schutzanzug die Terroristen zu einem Haufen zusammenzukarren, damit sie umweltverträglich entsorgt würden.
Da entdeckte er sie.
Es war eigentlich unmöglich. Die eingesetzten Befriedungsmittel durften kein Zucken zurücklassen. Doch ihre Augen sahen ihn an. Sie waren groß und wunderschön. Dunkel wie die feuchte, fruchtbare Krume seiner Heimat, frisch durchgegrubbert nach der Schneeschmelze im März. Sie schienen zu sagen, ich habe dich lieb, du Gespenst. Ich will dich retten. Hatte er das gelesen? Von diesem Gespenst von Canterbury? War er das Gespenst, das gerettet werden musste?
Er achtete nicht auf die anderen ringsum. Sah nur dieses Mädchen. Zog es aus dem Körperberg hervor. Es war verschwitzt. Eine kleine Schramme an der linken Schläfe wurde vom sandigen schwarzen Kraushaar halb verdeckt, ansonsten aber schien es unverletzt. Das Kleid oder wie man dieses Kleidungsstück nennen mochte, Burnus oder so, war gleichfalls an der linken Schulter zerrissen, so weit, dass es eine bubenhafte Brustwarze hervorschauen ließ. Das Mädchen hatte nicht die Kraft, die Blöße zu bedecken. Leben war nur noch in seinen Augen.
Für einen Moment wollte er das Kind zu dem restlichen Haufen stoßen. So verstrahlt, wie es war, würde es sowieso bald sterben. Ein Gnadenschuss würde es vor Qualen bewahren. Aber da war immer noch dieser Blick, diese Augen.
Was für ein Unsinn! Was dachte er ausgerechnet jetzt an Samantha, die so gern ein Kind gehabt hätte? Ein unbegreiflicher Reflex bewegte seinen Mund: „Wie heißt du, Mädchen?“
Er dachte sofort: Sam, bist du blöd! Sie kann dich nicht verstehen. Du müsstest durch deinen Anzug viel lauter sprechen. Und selbst dann – wie sollte dieses Mädchen deine Sprache verstehen?
Da hörte er Laute aus ihrem Mund: „Heißt du Mädchen Abea.“
Der Sergeant Samuel Mc Fadden packte das Kind an den Armen, schleppte es von dem Körperentsorgungshaufen fort zu seiner Batterie, und er drehte sich auch nicht um, als hinter ihm die Flammen mit einem dumpfen Puffen anfingen, den anderen Körpern Gnade zu erweisen.

Sonntag, 30. August 2009

Abea (2)


(Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition:)
...
Sie war über eine Schwelle getreten.
Hinter ihr war nichts, jedenfalls nichts, woran sie sich hätte erinnern können. In diesem Moment wusste sie nicht mehr, was sie jemals erlebt hatte, vor allem nicht, was gerade passiert war. Nur, dass sie sich nicht bewegen konnte. Um sie herum stank es fürchterlich und niemand war da, bei dem sie das hätte beklagen können.
Plötzlich stand ES vor ihr. ES war sehr groß, glänzte weiß, hatte keine Haare, keinen richtigen Mund, aber riesige ovale Augen. Beine auch, aber die bemerkte sie erst später. Sie bestaunte die fremden Riesenaugen.
Du wirst mir nichts tun. Ich habe dich lieb. Ich habe überhaupt keine Angst vor dir. Ich habe dich lieb.
Abea wunderte sich. Deutlich verstand sie, dass ES an eine Samantha dachte. Die hatte traurige blaue Augen und locker auf die Schulter fallende Haare von der Farbe der Wüste bei Windstille. ES dachte Gnadenschuss und Abea hätte zu gern gewusst, was das bedeutete. ES wollte wissen, wer sie war. Und Abea nahm die Worte von IHM und ergänzte ihren Namen.
Abea zögerte. Sie wollte zurückfragen, aber ES würde sie ja nicht verstehen. Da riss ES sie nach oben, und Abea sah vor sich einen schwarzen Himmel.
Ich kann Ihnen das nicht erklären. Glauben Sie mir. Ich würde gern, aber ich kann es mir selbst nicht erklären. Die meisten Zellen ihrer Abea sind radioaktiv aufgeladen. Aber sie strahlen nicht nach außen. Und das Seltsamste: Ich kann bisher keinerlei krankhafte Veränderungen feststellen.“
Bitte, Herr Doktor, reden Sie Klartext! Wie lange hat sie noch zu leben?“
Das kann ich einfach nicht sagen. Der Strahlenbelastung nach wäre sie längst tot, von der Wahrscheinlichkeit her muss die Strahlenkrankheit bald bei ihr ausbrechen. Spätestens dann bleibt Ihnen nichts mehr zu tun, als der Kleinen die Leiden zu mildern.“
Sie finden unsere Idee also verrückt?“
Der alte, bedächtig sprechende Chefarzt der Spezialklinik vermied es, Samantha und Samuel Mc Fadden in die Augen zu sehen.
Bitte fragen Sie mich nicht! Ich an Ihrer Stelle würde mir das alles noch einmal gründlich überlegen.“
In diesem Augenblick ging die Tür auf. Für einen winzigen Moment stand Abea abwartend da, die Klinke in der Hand, die dunklen Augen funkelten Sam an. Dann flog sie ihm entgegen, als hätte sie einen kräftigen Tritt bekommen. Sie landete auf seinem Schoß, und ihre Arme zogen Samanthas Kopf zu sich heran, drückten ihn und krabbelten mit den Fingern durch die blonden Haare, als suchten sie darin wenn schon nicht Läuse so doch wenigstens Wüstensandkörner.
So lange es geht, lebt Abea als unser Kind“, entschied Sam, wobei er abwechselnd zu Abea und dem Arzt blickte.
Und das Kind warf dem Mann in dem Kittel einen trotzigen Blick zu. „So lange es geht, lebt Abea als unser Kind“, wiederholte es störrisch.
Auf der Straße in die Kleinstadt, dort, wo man mehr als fünf Achtel des Himmels über sich sah, schwieg Sam vor sich hin. Seine freie Hand lag in der linken Samanthas.

Samstag, 29. August 2009

Abea (3)


(Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition:)

... Es war schon ein seltsames Gefühl. Zur Schule gehen. Mit Kindern, die hier groß geworden waren, alle Wörter kannten, die fremden Dinge, die sie bezeichnen sollten, ja, die sogar genauso aßen wie ihre Nachbarn.
Sag, ich heiße Abea!“
Das hatte ihr Sam erklärt, den sie jetzt Dad nennen sollte. So tat sie es auch, als sie allein mit der Lehrerin vor der Klasse stand. Trotzdem lachten die meisten. Vielleicht hatte sie die Laute nicht richtig betont.
Mrs. Widerman winkte. Daran erkannte Abea, dass vorn dort war, wo die anderen Kinder hinsahen, wenn sie sich nicht gerade feixend wie jetzt zu ihr umdrehten.
Mrs. Widerman fragte so boshaft, als wäre völlig klar, dass Abea nicht wissen konnte, wie viel zwei plus drei sei. Aber sie dachte dabei fünf, so dass Abea laut „Fünf!“ sagte, und auch, als die Aufgaben schwieriger wurden, dachte die Lehrerin immer an die Lösung, die Abea nur laut nachsagen brauchte.
Viel hatte Abea nicht verstanden, aber weil alle ihre Antworten richtig gewesen waren, galt sie von nun an als Rechenass. Rechnen war auch leichter als die fremde Sprache, von der man so viele Worte mit so vielen Bedeutungen behalten musste, und David, der immer am lautesten dachte, formulierte so viele falsche Sätze.
Abea lernte schnell.
Trotzdem war sie traurig. Mathew hatte immer solche Angst vor dem Unterrichtsschluss. Sie fragte ihn, warum er nicht mit den anderen loslaufe.
Lass mich in Ruhe“, antwortete er abweisend. Aber da kamen schon Hobbes und dessen Gang und schlugen auf den kleinen schwarzen Jungen ein. Überrascht und hilflos stand Abea daneben.
In der nächsten Pause jedoch stellte sie sich vor Hobbes hin.
Warum lässt du Mathew nicht in Ruhe?“
Die anderen aus der Klasse bildeten einen Kreis um sie. Hobbes grinste. Sein Gedanke kam genauso schnell oder langsam wie seine Worte: „Weils einfach Spaß macht. Aber wir können ja auch dich nehmen.“
Fast alle lachten.
Nur Benny stand in der Ecke und dachte, Mädchen schlägt man nicht. Er fürchtete sich, das laut zu sagen. So war Abea am Schluss der letzten Stunde auf ihn zugegangen, hatte ihn an der Hand genommen und war mit ihm schweigend durch die Gasse der verwirrten restlichen Jungen geschritten.
Schwarze Hexe!“, rief Hobbes. Aber Abea hätte nicht sagen können, ob das abschätzig oder zumindest etwas anerkennend gemeint war. ...

Mittwoch, 26. August 2009

Abea (5)


(Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition:)

... Aber die Klasse hatte sich verändert.
Abea war Hobbes lange aus dem Weg gegangen. Das, was sie an Gedanken aus seinem Kopf hörte, quälte sie. Was konnte sie denn dafür, dass sein Vater von dort unten die tödliche Krankheit, ihr Dad dagegen sie mitgebracht hatte?
Dann merkte sie, dass sie immer mehr Mitschüler mieden. Wie eine Fahne zog sie den Titel „Schwarze Hexe“ hinter sich her. In ihrer Gegenwart sprach ihn niemand aus, aber das war vielleicht noch schlimmer: Es aus den zurückgebliebenen Gedanken der anderen lesen zu müssen, wie sie in ihrer Abwesenheit über sie hergezogen waren.
Hobbes war größer, älter und kräftiger als die anderen. Auf dem Heimweg von der Chorstunde, die jetzt auch keine richtige Freude für Abea mehr war, stand er plötzlich mit fünf anderen Jungs vor ihr. „Na, Cleopatra, bist du eigentlich beschnitten? Ihr Araberweiber sollt ja so scharf sein, dass ihr es anders nicht aushalten könnt. Na, ich beschneide dich gern. Wo auch immer.“
Sie hörte die anderen denken, lass den Quatsch, was soll das! Aber keiner sagte etwas. Sie konnte sich losreißen, rannte, rannte, rannte.
Zu Hause redete gerade die Mutter von Samantha auf Abeas Pflegeeltern ein, ohne das Kind in der Tür zu bemerken: „… Wir haben dreißig Rollen bekommen. Wir dachten, am Wochenende tapezieren wir zusammen. Rosa Wölkchen. Sind die nicht niedlich?“
Wortlos verzog sich Abea auf ihr Zimmer.
In der Schule häufen sich in letzter Zeit die Fälle von … Also, wenn es nicht so verrückt klänge, dann würde ich sagen Strahlenkrankheit. Genau genommen betrifft das die ganze Klasse Ihrer Tochter bis auf … na, eben bis auf Ihre Tochter selbst.“
Das kann ja wohl nicht wahr sein.“
Samantha hatte sich erhoben.
Mrs. Widerman war ebenfalls aufgestanden.
Ich glaube es natürlich auch nicht. Aber an mich ist von mehreren Eltern die Bitte herangetragen worden, mit Ihnen zu sprechen. Sie mögen Ihr Kind aus unserer Schule nehmen. Wie gesagt, das …“
Ich versteh schon! Auf Wiedersehen!“
Samantha stürmte wutentbrannt heim. Kurz vor ihrem Haus traf sie ein Stein in der Nierengegend.
...

Dienstag, 25. August 2009

Abea (6 = Schluss)


... Stumm horchte Abea an Samanthas Bauch, dort wo jetzt nichts mehr zu hören war. Sie spürte die Hand der weinenden Mutter auf ihrem Kopf, aber sie hörte auch deren Gedanken.
Wenn du nicht wärst, dann wäre bald mein eigenes Kind da.
Leise war hinter ihnen die Tür aufgegangen. Müde warf Sam seine Tasche in eine Ecke, so dass sich „seine beiden Frauen“ erwartungsvoll zu ihm umdrehen.
Abeas Werte sind jetzt okay. Burkland konnte nicht die geringste Radioaktivität mehr in ihren Zellen feststellen.“
Das Mädchen sprang auf, lief die Treppe hinauf, schloss sich in ihr Zimmer ein, warf sich aufs Bett und prügelte mit der Stirn auf das unschuldige Kopfkissen ein.
Oh, könnte sie doch endlich die fremden Gedanken von sich fern halten. Nein sie war kein Monster! Nicht einmal „Unser Monster“, wie in Mums Gedanken! Nein, das schon gar nicht.
Am nächsten Morgen stiegen nur noch vereinzelt Qualmwölkchen aus dem niedergebrannten Haus der Mc Faddens. Samuel Mc Fadden hielt seine zitternde Frau in den Armen. „Nicht auch noch Abea, nicht auch noch Abea!“
Wieder ist eine Stunde um.
Auf dem Schreibtisch liegt eine verschmierte Notiz. „Von einem etwa zehnjährigen Mädchen, welches ein Armeeangehöriger namens Mc Fadden oder wie auch immer angeblich aus dem Krieg mitgebracht haben will, ist im Stab nichts bekannt.“ Mir ist so egal, ob Sam sich Abea ausgedacht hat, um sich vielleicht für ein Kind zu entschuldigen, das dank seines Einsatzes gestorben ist, er bei mir nur Bestätigung sucht, dass er nicht anders hätte handeln können, oder was auch immer. Ich habe mein Geld damit verdient zuzuhören. Ich möchte nicht mehr darüber reden. Ich verabschiede den halb mumifiziert wirkenden Mann mit einem Händedruck. Die letzten Worte seiner Geschichte klingen in mir nach: „Für einen Moment, einen winzigen, aber eben einen vorhandenen Moment, ging mir durch den Kopf. Ach wäre sie doch damals schon mit verbrannt …“

 Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition.

Samstag, 7. Februar 2009

Planet der Pondos - Leseprobe Anfang (1)


Sie hörte es brummen. Irgendwo im Hintergrund, gleichmäßig, leise, einschläfernd. Was ging es sie an?  Es war weit weg. Dabei sollte es bleiben. Tröpfchenweise trat an die Stelle wohliger Schläfrigkeit eine vage Furcht.
Sie öffnete die Augen, versuchte sich umzusehen. Erkannte nichts. Sah absolut nichts. Nichts als Finsternis. Eigentlich konnte sie sich nur eine Erklärung vorstellen: Sie war blind.
Sie schloss die Augen wieder. Suchte nach vernünftigen Gedanken. Was war mit ihr los? Wo befand sie sich? Warum? Wie kam sie hierher? Träumte sie? Fragen ohne Antwort. Die Erinnerung war fast so schwarz wie die Umgebung. Die letzten Stunden, Tage, Monate, vielleicht Jahre – einfach ausgelöscht.
So, mit geschlossenen Augen, sah sie sich selbst als Kind von kaum fünf Jahren. Das konnte lange, sehr lange zurück liegen. Angeblich erinnerten sich Säufer zwar nicht an Ereignisse der letzten Stunden, wohl aber an die Zeit davor. Sie erinnerte sich weder an die nahe noch an die fernere Vergangenheit. Nicht einmal an ihren Namen. War das nicht absurd? Immerhin war ihr schon eingefallen, dass sie einen Namen haben musste.
Was hatte sie erlebt in jenem gerade verschütteten Lebensabschnitt? Sie kannte wenigstens noch die Worte ihrer Sprache, wusste, was sie bedeuteten, wusste, dass so etwas vorkommt, dass jemand sein Gedächtnis verliert durch Schocks oder Unfälle.
Vorsichtig hob sie den Kopf, sah ihre Brüste als aufgerichtetes Hügelpaar. Sie war also ein Mädchen. Warum sie sich einbildete, ein fast erwachsenes Mädchen und keine Frau zu sein, wusste sie nicht. Aber das war wenigstens etwas. Sie ließ den Kopf fallen. Wunderte sich. Hatte sie nicht gerade etwas gesehen? Jetzt umgab sie totale Schwärze wie zuvor.
Das musste ein Traum sein, versuchte sie sich einzureden. Also sollte sie besser weiter schlafen und später erfrischt aufwachen. Dann erwiese sich diese Art, aus einem Traum aufzuwachen, hoffentlich selbst als Traum. Welch verlockender Gedanke! Nur sprachen ihre Empfindungen dagegen, selbst, wenn sie ihr irgendwie unvollständig vorkamen. Vergeblich kämpfte sie gegen die Vorstellung an, keine Hände zu haben, keine Beine, eigentlich überhaupt keinen Körper vom Kopf an abwärts. Empfand man so, wenn man gelähmt war? War sie etwa …
Nein, sie spürte etwas. Ja, da arbeiteten Nerven! Nicht Schmerzen. Dort, wo sie endlich ihren Körper fühlte, war ihr, als ob Amei­sen über die Haut krabbelten. Blut floss, als hätte es selbst bis jetzt geschlafen. Das war ein Grund zur Freude: Ziemlich sicher war sie nicht gelähmt. Und blind wohl auch nicht! Dann klärte sich der Rest bestimmt auch bald.
Einen Moment lag sie still. Überlegte. Müsste sie nicht noch mehr als ihren Kopf bewe­gen können? Weit unten die Beine zum Beispiel? Sie konzentrierte sich ganz fest auf die Zehen. Das Blut fußwärts fließen lassen. Ganz ruhig. So ähnlich wie bei autogenem Training, und sie stutzte, warum ihr ausgerechnet das einfiel, ihr eigener Name aber nicht. Und dieses Kribbeln nahm immer mehr zu. Sie wollte sich kratzen und konnte nicht. Wer sollte sich da konzentrieren können!
Uli! Uljana Silberbaum. Hach! Das war ihr Name. Er war einfach wieder da! Sie atmete tief durch, freute sich und vergaß darüber fast ihren eigensinnigen Körper.
Dafür kam eine andere Frage zurück. Wo lag sie eigentlich? Die Haut ihres Rückens verriet, es war kein Bett.
Uljana hob eine Hand, drückte den Zeigefinger auf die Nasenspitze, landete fast auf der Oberlippe. Immerhin. Sie hatte Arm, Hand und Finger fast genauso bewegt, wie sie es vorgehabt hatte, wenn auch mit Mühe. Nur die Haut kam ihr irgendwie taub vor oder … zumindest nicht normal.
Nun den ganzen Oberkörper hoch. Gut gesagt. Erst nach drei Versuchen gelang es. Uljana stieß dabei gegen einen Deckel über sich, der ihr bisher nicht aufgefallen war. Glücklicherweise war er nicht schwer und ließ sich mühelos hochklappen. Beruhigt, fast schon vergnügt, stellte Uljana fest, dass sie dazu den Arm, der eben noch so schwer gewesen war, bereits ohne große Probleme gestreckt hatte.
Noch immer war es ziemlich dunkel. Andererseits hell genug, dass Uljana Wände ringsum erkannte. Und viele Einzelheiten der sie umgebenden Halle. Als dimmte jemand eine versteckte Lampe hoch, sobald sie sich aufrichtete. Doch, ja, es war genau in dem Moment heller geworden, in dem sie den Deckel hochgestoßen hatte, um sich aufzusetzen. Löste sie den Effekt demnach selbst aus? Nur vorsichtig! Mit dem Blind- und dem Gelähmtsein hatte sie schon zwei voreilige Schlüsse gezogen. Das reichte.
Uljana sah sich unsicher um. Sie lag am Ende des Raums, an einer Tür. Die Halle war lang gestreckt und kam ihr fremd vor. Sie wurde durch einen schmalen Gang in der Mitte in zwei gleiche Hälften geteilt. Auf beiden Seiten ragten Behälter von etwa zwei Metern Länge und einem Meter Breite aus der Wand. Alle von derselben Art wie ihrer. Uljana schätzte auf jeder Seite mehr als hundert. Erschauerte. Särge! Wenn die Behälter überhaupt etwas ähnlich sahen, dann Särgen. Zumindest war die Ähnlichkeit verblüffend. Solche Szenen gehörten in Horrorfilme. Oder Albträume! Uljana ballte ihre Finger zu Fäusten. Aufwachen! Warum wachte sie nicht endlich auf?!

Freitag, 6. Februar 2009

Planet der Pondos - Leseprobe Anfang (2)


Sie ließ sich wieder zurück fallen. Dabei merkte sie, dass der Untergrund an ihre Körperform angepasst war. Eine Art Schale. Kein Sarg. Wenn sie nur wüsste, wie sie in diese Halle gekommen war!
Also noch einmal aufrichten! Uljana durchfuhr ein stechender Schmerz. Ihr Kopf war über Kabel mit einem Schaltkasten verbunden, an dem Kurven und Zahlen blinkten. Auch die linke Armbeuge und der Bauchnabel hingen auf diese Weise an dem Kasten. An einem der Kabel hatte sie beim Aufrichten gezogen. Uljana nahm sich vor, sich nicht mehr dieser lähmenden Angst hinzugeben und sich nicht mehr ruckartig zu bewegen.
Sie versuchte mehr zu erkennen. Entdeckte nur die drei Leitungen. Also hing sie nicht an einem Tropf. Meldete sich gerade wieder eine Erinnerung aus frühen Kinderzeiten? Wahrscheinlich. Ein Arzt sagte zu jemandem, den sie nicht sehen konnte, „Der Fuß ist wohl nicht zu retten, aber wir wollen alles versuchen …“ Nein, an der Stelle hörte der Film auf. Seltsam. Uljana sah sich durch die Luft fliegen, sah eine blendend helle Lampe über sich, spürte das Jucken überall, wo sie sich nicht kratzen konnte. Es half nichts. Wieder Dunkelheit.
Uljana musterte die Anzeigen auf dem Kasten. War sie krank? Manches war eindeutig beschriftet. Mit einigen Werten konnte sie sogar etwas anfangen. Der Herzschlag zum Beispiel war in Ordnung. Temperatur, Atemfrequenz. Selbst der Hämoglobinwert.
Dieses eintönige leise Summen… Uljana war sich sicher, dieses Geräusch früher noch nie gehört zu haben. Was war das? Sie lehnte sich wieder zurück, fühlte sich müde. Grübelte. Kalt war es nicht in dem Saal. Trotzdem. Warum lag sie nackt in einer Schale mit Deckel?
Sie schloss die Augen. Bilder, denen die Farbe fehlte. Langsame Bewegungen, dann wieder ein Ruck zum nächsten Bild. Ein Mann lächelte sie an. Sie streckte sich auf einer Liege aus. Freiwillig. Nackt. Aber warum?
Uljana zitterte. Jetzt! Das waren sie, die richtigen Bilder. In denen lag der Schlüssel ….
Eine Schwester strich ihr über die Stirn, richtete eine Spritze auf die Armbeuge … dann sah Uljana nichts mehr. Oder noch ganz kurz hinter der Schwester ihre Debbie.
Mum? Uljana sah sie deutlich vor sich. Debbie, ihre Mutter. Aber gleich in zwei Gestalten: Als ganz junge, wunderschöne Frau mit vollen, lockigen Haaren und als eine nicht mehr ganz so junge, immer noch attraktive. Wahrscheinlich während der Operationsvorbereitung in der Kinderzeit und bei dem Ereignis, an das sie sich unbedingt erinnern musste.
Uljana hörte das Blut im Ohr pulsieren. Wie bekäme sie endlich Ordnung in ihren verwirrten Schädel? Und woher kam der Gedanke, ihre Mutter läge gleich im nächsten Sarg? Sie brauchte nur aufzustehen und sich zu überzeugen? Es gab einen Grund für diese Sicherheit. Nur welchen?
Uljana wendete sich wieder dem Kasten mit seinen vielen Anzeigen zu. Schalter, Hebel, Druckknöpfe, …da stimmte doch etwas nicht. Es passte nicht zu den Erinnerungen. Also zu denen, die ganz dicht waren wie ein Wort, das man kennt und das einem genau in dem Moment, wenn man es aussprechen will, nicht einfallen will.
Die Akustiksteuerung! Das war es. Wieso war hier keine Akustiksteuerung installiert? Nahezu alles konnte man früher ansprechen und damit das jeweils gewünschte Programm aktivieren. Warum jetzt nicht? Oder doch? Also ausprobieren. Was wollte sie? Erst einmal „Kontakt lösen!“ Uljana sagte es laut, klar und deutlich.
Nichts geschah. Vielleicht mit einem anderen Kommando? Oder musste sie anstatt dessen unbedingt auf einen der Knöpfe drücken? Bloß auf welchen? Auf den grünen, über dem das Kabel zum Kopf endete? Schließlich streckte sie zaghaft eine Hand in Richtung Kasten aus und drückte auf den grünen Button. Das Gerät brummte auf. Ganz kurz schreckte Uljana zusammen. Warf sich auf die Unterlage. Noch während dieser Bewegung sprang das Kabel von ihrem Kopf ab. Dafür schoben sich zwei mechanische Hände aus den Seitenfronten ihres Behälters. Sie begannen ihre Haut zu massieren. Uljana schloss die Augen. War das angenehm! Sie hätte sich dehnen und strecken wollen. Die Massage vertrieb sowohl das Kribbeln als auch die unerklärliche Taubheit der Haut. Weiche Finger brachten endlich die Durchblutung in Ordnung. Zum ersten Mal, seit Uljana erwacht war, ohne zu wissen wo, fühlte sie sich wohl. Das könnte ewig so gehen, dachte sie noch. Dann verschwand alles um sie herum.
Irgendwann ertönte ein schmatzendes Geräusch und die beiden Strippen mit den Massagefingern wurden wie von unsichtbarer Hand in die Seitenverkleidung des Behälters zurückgezogen.
Die angenehmen Schauer wirkten nach. Erst allmählich fand Uljana wieder in ihren Behälter zurück. Sie fühlte sich wohlig schlaff. Jetzt einen Moment ruhen, dachte sie, und dann wäre alles wieder in Ordnung. Erneut war sie eingeschlafen.

Samstag, 3. Januar 2009

Planet der Pondos - der Roman


 In einem Roman prallen verschiedene Schicksale aufeinander. Auf dem Planeten der Pondos sind das die Erlebnisse mehrerer unterschiedlicher Heldinnen und Helden.
Uljana und Deborah Silberbaum, George Maratin und Jenny gehören zum Beispiel zu den Passagieren des Raumschiff „New Home 9“.
 Die Erde hatten die wirtschaftlich Herrschenden auch für sich selbst zu einem Ort gemacht, von dem man flieht, wenn man kann. 
Zusammen mit einigen „Zugelosten“ suchen die, die sich eine solche Reise leisten können nach einem zu besiedelnden neuen Planeten. Nach langer Reise findet das Computersystem einen passenden. Da ist es bereits defekt. Zufälle trennen Erwachsen und ihre Kinder voneinander und führen sie wieder zusammen. Bewusste Entscheidungen trennen sie letztlich voneinander. Da sind die Jugendlichen auf der Seite von rebellierenden jungen Koom angekommen, Maratin hatte sich zum Gouverneur eines eroberten Landes machen lassen und Deborah, Uljanas Mutter, gerät zwischen für sie schwer zu durchschauende Fronten.
Breckoro ist der Strippenzieher eines Vorkommnisses, mit dem der auf persönlichen Profit fixierte Staat der Weih seinen Überfall auf die nur durch eine natürliche Barriere geschützte Nachbargesellschaft der Koom begründet. Breckoros Gebäude aus Macht und Intrigen bricht erst allmählich zusammen, als er sich seinen Sieg mit einer entblößten Deborah Silberbaum als „Vorzimmerdame“ und deren Zuneigung versüßen will.
Onjas Familie ist die Idylle, die sich die Koom geschaffen haben, vor allem ihre Brüder Pedo und Salio und natürlich die Eltern Lutara und Orgios.
 Der Krieg bricht über die Familie mit besonderer Brutalität herein. Das Mädchen wird dabei auf eine Weise gezeichnet, dass sie andere Koom vorbehaltlos als Anführerin des spontanen Widerstands anerkennen.
Ins Rollen kommt das Geschehen durch die Kari. Deren Siedlung auf einem nahen Himmelskörper ist vom Aussterben bedroht. Also starten die dortigen Bewohner einen Hilferuf an jene Kari, die sich in einem Sperrgebiet zwischen dem ursprünglichen Territorium der Weih und der Koom angesiedelt hatten. Um aber ihren Artgenossen helfen zu können, brauchen diese das Raumschiff der Menschen und sie versuchen einiges, um es zu bekommen.
Äußerlich erscheint vieles als Auseinandersetzung zwischen Erwachsenen und ihren Kindern, die unterschiedliche Vorstellungen zum vernünftigen Zusammenleben entwickeln. Die anfängliche Gefangenschaft hat bei den Jugendlichen ein neues und von ihnen als ideal empfundenes, allerdings etwas unklares Verständnis von Zusammenleben angeregt – zu einer Zeit, als sich die Erwachsenen längst an die neuen Machtverhältnisse angepasst haben.
Die mitgebrachte Waffentechnik der Menschen ist der der Pondos überlegen. So spielt nicht nur das berauschende Wasser eines geheimnisvollen Sees eine Rolle im Kampf um den Besitz eben dieser Waffen…
Die Voraussetzungen, einen Aufstand zur Wiederherstellung kommunistischer (?) Verhältnisse zu führen, ist etwas, was weder die eingeborenen Jugendlichen mitbringen noch die Jugendlichen der Erde. Zum Handeln sind sie trotzdem alle entschlossen. Sie ahnen allerdings nicht, dass das Gift des Verrats auch in ihren Reihen wirkt …