Sonntag, 31. März 2013

Leseprobe zu Slov ant Gali / Ricardo Riedlinger "Der lebende See"


Ich hätte gern weiter geträumt, aber Tanja stößt mir ihren Ellenbogen zwischen die Rippen. Etwas stimmt nicht. Irgendetwas ist anders als sonst. Nur was? Grübeln ist sinnlos. Ich schlafe sowieso nicht wieder ein. Obwohl … Ich blinzele. Tanja hat sich halb aufgedeckt. Ich decke sie zu und schleiche ins Bad, komme aber nicht dazu, mir in Ruhe die Zähne zu putzen. Tanja steht plötzlich in der Tür.
Sie hält sich die linke Hand über die Augen und quäkt “Warum läuft denn gar keine Musik?” Das also ist es – das ewige leise Berieseln mit harmonischen Klängen hat mir gefehlt. Ich laufe ins Wohnzimmer. Gespenstische Stille, der Monitor dunkel, kein grünes Signallicht am Tower. Ich drücke halb verärgert, halb verängstigt den großen schwarzen Knopf. Auf dem Bildschirm erscheinen drei überdimensionale Ausrufezeichen. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich sie anstarre, lösen sie sich pixelweise auf. An ihrer Stelle macht sich ein Schriftzug auf dem ganzen Monitor breit: “Sie haben die vorausgegangenen automatischen Warnungen nicht ernst genommen.” Tanja ist hinter mich getreten. “Is was, Mama?” — “Nein, nein.” Wie, um mich Lügen zu strafen, kommt die nächste Meldung. “Sie haben seit sieben Tagen Ihr genehmigtes Limit überschritten. Gleichen Sie innerhalb der nächsten 72 Stunden Ihr Konto aus! Sollten Sie diese Chance bis zum 28. November, 0.00 Uhr, missachten, wird auch Ihr restlicher Nutzercode gelöscht. Alle Schaltfunktionen verbleiben dann in der jeweiligen Ist-Stellung. Die Entsorgung Ihrer Überreste vereinbaren Sie bitte mit einer der zuständigen Firmen. Wählen Sie nach Betätigung des OK-Buttons eine aus!”
Ich setze mich zitternd auf den Computersessel. Ohne zu überlegen drücke ich OK. Sofort scrollt eine Liste über den Bildschirm. Ich versuche, den Computer abzuschalten, aber anstatt mir zu gehorchen setzt er sein Fremdprogramm bei den Ausrufezeichen fort. Das ist also eine Endlosschleife. Genauer, eine Schleife bis zum 27. November, 24.00 Uhr. Dann kommt die Dunkelheit, eine verschlossene Wohnungstür … oder eine nicht mehr verschließbare, sollte ich sie zuvor offengelassen haben. Aber was hätte ich mit dem Offenlassen meiner Wohnungstür gewonnen, ohne elektronischen Code fürs Haus? Alle Zähler, jeder Strom, einfach alles wäre für mich unerreichbar. Ich wäre tot, bevor ich tot wäre. Und Tanja auch.
Beim zweiten Durchlauf der Schrift beginne ich zu frieren. Ich bin nackt, so unendlich nackt. Mit starrem Blick renne ich an Tanja vorbei ins Bad und drehe den Hahn für das heiße Duschwasser bis zum Anschlag. Die auf mich einprasselnden Schauer röten mir augenblicklich die Haut. Dampf lässt den Spiegel erblinden. Die Tür geht auf. Tanja wirft ihr Nachthemd neben die Toilette. Ihr Lachen klingt fern. Bevor ich mich ihr richtig zugewendet habe, höre ich sie schreien. “Au, Mama, das kocht ja!” Ich komme wieder zu mir, regele die Wassertemperatur herunter und beginne, Tanja zu bespritzen. Die lässt am Waschbecken kaltes Wasser laufen, formt ihre Hände zu einer Schüssel und zielt auf meinen Bauch. “Treffer!” Ich quieke und bald sind wir außer Atem …
Wieder am Computer, beginne ich wie wild zu diktieren. Zum Mittagessen hole ich Tanjas Lieblingspizza aus dem Kühlschrank, und als sie nachmittags auf dem Hof spielen will, sage ich nur, “Ich ruf dich dann.” Da habe ich schon etwa 200 Mails versendet. Bettelbriefe, Bewerbungen mit der Bitte um Vorschuss, Anfragen nach einem Gelegenheitsjob.
zu den Outsidern? Mit Tanja? Inzwischen ist eine Anfrage nach einem Bild von ihr eingegangen. Wenn noch keine Haare zwischen den Beinen gewachsen seien, hätte man Verwendung für sie … Woher hat dieser Ekelbock nur so schnell von meiner Tochter erfahren? Oder hängen sich die Programme der Kinderhändler einfach automatisch an Bewerbungsabsagen? Traurig werfe ich Tanjas Lieblingskleid in den Schmutzwäschebehälter.
Der 26. November vergeht ohne Auffälligkeiten. Ich kann mich einfach nicht entschließen. Was ich über die Outsider gehört habe, schreckt mich ab. Ein verwildertes Dasein mit Tanja? Nein.
Ich checke alle eingegangenen Rückmeldungen: 180 Absagen. Soll ich die unbeantworteten Mails zählen? Vielleicht kommt noch was Positives? Vier Bieter fragen nach Tanja. Alle wollen das Mädchen sofort benutzen. Bleibt denn wirklich nur die Möglichkeit, unter verschiedenen Formen des Entsorgens zu wählen?! Ich muss handeln. Sonst werden wir in der abgedichteten Wohnung ersticken oder verhungern oder verdursten. Dann sollen sie uns wenigstens professionell entsorgen. Ich klicke den Katalog an.
Wir garantieren einen Abschied von der Vulgärexistenz für Mutter und Tochter in würdiger Gemeinschaft – schmerzfrei und glückstraumerfüllt.” So also klingt für uns positiv. Eine steuerfinanzierte Leistung. Kaum berührt der Cursor die Pforte des abgebildeten Gebäudes, verkünden zwei seriös gekleidete Herren, dass sie gern für die gewünschte Operation zur Verfügung ständen.
Der Vertragstext blinkt auf. Bei einem Paragraphen erwache ich kurz. Was? “... Ich stelle alle meine funktionsfähigen Organe anderen Vulgärexistenzen zur Nachnutzung zur Verfügung …”? Lässt sich das ausschalten? Natürlich. Wir leben ja in einer freien Gesellschaft. Da kann jeder über seinen Körper verfügen. Nur wer auf “Weiter” klickt, bestätigt sein Einverständnis. Ich nicht. Ihr bekommt keine Ersatzteile aus meinem Körper … und aus Tanjas erst recht nicht. Mit dem Gefühl, es der Welt so richtig gezeigt zu haben, beende ich das Vertragsstudium und signiere mit Karte. 30 Stunden noch.
Ich erzähle Tanja eine Gute-Nacht-Geschichte. Dann streiche ich ihr über die Stirn und frage im Tonfall des vorangegangenen Märchens: “Wenn plötzlich zwei Männer kämen und wollten uns beide an einen Ort holen, an dem wir noch nie gewesen sind und von wo wir nie mehr zurückkämen, möchtest du dann mit?” Tanja murmelt: “Ist es da schön?” Und ich antworte: “Schöner als hier.” Wie glücklich Tanja da “Ja!” sagt ...
Als ich unter die Decke krieche, hat sie sich wie ein Embryo zusammengerollt. Kaum spürt sie meine Nähe, versucht sie mich wie einen Teddy zu umfassen. Obwohl ich sie ganz gleichmäßig atmen höre, kann ich nicht einschlafen.
27. November, 7.30 Uhr. Ich habe geträumt, in meinen Schützengraben dringt eine weiße Wolke ein. Winzige Sternchen krabbeln in meine Nase. Ich möchte allzu gern niesen, aber es geht einfach nicht. Ich hole tief Luft … und endlich pruste ich alle diese Gassternchen wieder aus, öffne die Augen und … sehe in Tanjas verschmitztes Gesicht. Sie lacht und dann krümmt sie sich und sieht hoch und krümmt sich schon wieder – wegen meiner Grimasse. Endlich entdecke ich das Haar in ihren Fingern, das sie gerade aus meinem Nasenloch gezogen hat, und rufe “Na warte!” Wir balgen herum …unser letzter Tag.
Tanja ist beim Frühstück sehr still. Ob wohl mit mir etwas nicht in Ordnung ist? Tanja fragt nicht, guckt mich aber mehrmals prüfend an. Nur was sollte ich sagen? Die Wahrheit? ...

Samstag, 30. März 2013

Slov ant Gali / Ricardo Riedlinger: „Der lebende See“ Utopische Erzählungen


Bisher umfasst das Manuskript 8 Geschichten:
  1. … mit einem unnützen Mädchen …
In einer durchelektronisierten Welt kann eine allein erziehende Mutter ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen. Der Computer gewährt ihr drei Tage Frist, bevor sie abgeschaltet wird und damit lebend nicht mehr existiert. Wer reich genug ist, stirbt nicht, sondern wird an eine virtuelle Idealwelt angeschlossen. In der Erwartung ihres unmittelbar bevorstehenden Todes handelt die Frau spontan.
  1. Abea
Aus einen Krieg in Arabien bringt ein amerikanischer Soldat ein strahlengeschädigtes Mädchen nach Hause. Die Schädigung befähigt das Mädchen, Gedanken zu lesen. Während die Kameraden jenes Soldaten heimgekehrt einen schnellen Strahlentod sterben, wird die Pflegemutti mit dem nicht mehr für möglich gehaltenen eigenen Kind schwanger ...
  1. Liebe Kinder
Ein Endzeit-Roadmovie eines Geschwisterkinderpaars durch eine Welt, in der durch Umweltschäden (???) alle Menschen mit Erreichen des Erwachsenenalters sterben. Ein Funken Hoffnung lodert auf, als die inzwischen Halbwüchsigen in Berlin eine Jungenbande treffen und das Mädchen das Kommando übernimmt.
  1. Sicher im Zoo
Zwei 18-jährige gehen zwecks Finanzierung ihrer Schönheits-OPs in einen Big-Brother-Zoo, in dem alle Kandidaten dauerhaft nackt darum kämpfen, dort als erstes ein Kind zu zeugen. Die Erzählung enthält parodistische Züge.
  1. Im Heute das Morgen
Ein Raumfahrer begegnet bei einem Vortrag einem Mädchen, dessen Vision ihm beim Passieren eines fernen Planeten begegnet ist, richtiger: ihm von einer „Ursuppe“ geschickt worden war.
  1. Der lebende See
Ein Raumfahrer strandet auf einem Planeten, dessen wenige Intelligenzwesen nicht Ergebnis einer langen Evolution sind sondern Geschöpfe, die sich ein mit Lebensvorformen gefüllter See erschaffen hatte, um die Entwicklung des von ihm geschaffenen Landlebens zu verfolgen. Mit wachsendem Entsetzen begreift der Raumfahrer die Beseitigung aller Evolution und sinnt auf Änderung.
  1. Welcher nun bin ich?
Mit einer Zeitreise in die Vergangenheit möchte der Held einen Unfall ungeschehen machen, durch den seine große Liebe ums Leben gekommen war. So erschafft er sich als buchhaltender Ehemann dieser Frau neu und steht sich selbst in seine Zeit zurückgekehrt gegenüber. Beide Ichs reisen erneut an die Stelle ihres Lebenswendepunkts, um ihrem Ur-Ich zu begegnen.
  1. Kanskes Kamera
Ein Außerirdischer möchte das Wesen der Menschen eforschen und schenkt zu diesem Zweck einem Fotografen eine Kamera, die alle Menschen unverhüllt einfängt, ohne dass die das merken. Der Fotograf macht dank skrupelloser Ausnutzung dieser Technik eine Wahnsinnskarriere, bis ein Mädchen zum Schnppschussobjekt wird, in das er sich verliebt ...