Montag, 18. November 2013

SF-Story 4 in "Der lebende See": Im Heute das Morgen (Anfang)

Als sie in den Hörsaal gedrängt wurde, kam ihr, zum wievielten Mal schon, der Gedanke, sie sollte ihre Haare färben. Es war doch die natürlichste Sache der Welt. Ihre rötlichen Haare hoben sie aus der Masse heraus. Und genau das wollte sie nicht. Janara musste aufpassen, um nicht abgedrängt zu werden. Nein. Myra hielt zwei Plätze frei. Ganz oben. Für Peggy und sie. Mit Myra war jede Veranstaltung ein Erlebnis. Die fand immer etwas dazwischenzureden. Das lenkte ab. Aber die Semesterarbeit musste wenigstens ein „befriedigend“ bringen. Dann bekam sie die Anwesenheit für das Fach „Psychologische Probleme extra-terrestrischer Lebensentwicklung“ bescheinigt. Mehr wollte Janara eigentlich nicht. Um im kommenden Jahr an einem College studieren zu können, brauchte sie neben dem Notendurchschnitt, der kein Problem für sie war, den Beweis für ein thematisch breit entwickeltes Interesse. Möglichst viele Nebenfächer. Je mehr, desto besser. Extraterrestrische Lebensentwicklung interessierte sie nicht wirklich. Aber viele der Mitschüler fanden es schick. Da hatte sie die größte Chance, nachher noch ein paar Gedankengänge mit anderen zu vergleichen. Und diese Lesung war auf jeden Fall etwas Außer-gewöhnliches – nicht nur Myras Kommentare wegen. Da ließ sich ein Dozent der Akademie zweimal im Jahr für die Schüler ihrer unbedeutenden Kleinstadt dazu herab, vier Stunden Vortrag zu halten. Weil er hier geboren und tatsächlich schon im All gewesen war. Na, vielleicht hoffte er, so schneller einen eigenen Lehrstuhl zu bekommen.
Von ihren Plätzen hatten die Mädchen eine gute Übersicht. Janara versuchte, dieses unsinnige Gefühl wegzudrücken, gleich ginge eine Prüfung los. So also sah ein echter “altehrwürdiger” Hörsaal aus. Kein Computerkabinett mit Simultanarbeitsplätzen, sondern ein riesiger Raum mit Bänken, die aufsteigend angeordnet waren. Von den schätzungsweise 400 Sitzen waren inzwischen etwa 300 belegt und noch immer spuckten die beiden Doppeltüren schubsende Schüler in den Saal. Eigentlich war das eine ideale Gelegenheit. Wann konnte man sonst schon die Jungen beobachten, ohne dass die sich wie alberne Gockel benahmen ... HAST DU ABER SCHÖNE BLAUE AUGEN! Janara hätte es für ein gelungenes Kompliment gehalten, sich zumindest darüber gefreut, wenn es nicht so verdammt abgeschmackt und abgenutzt geklungen hätte. Diese Augen waren neben jenen rötlichen Haaren das auffälligste Erbstück von ihrer Mutter und die war auch jetzt noch eine aufregende Frau. Was andere Mädchen mit extra eingesetzten Haftschalen zu imitieren versuchten, war bei Janara Natur: Ihre Iris gab im Normal-fall einen ungewöhnlich breiten Kreis hellblau leuchtenden Himmels preis. Aber wahrscheinlich hielten es eben alle für künstlich. Es war so “in”, dass Janara schon an grüne Haftschalen gedacht hatte. Die passten auch zu ihren Haaren.
Noch drei Minuten. Jener legendäre George Buckinns stand schon vorn neben dem Pult. Offensichtlich nervös spielte er am Beamer herum. Wunderbar: Der würde also Zusammenfassung und Struktur des Vortrags an die Wand werfen. Janara brauchte nur Fotos zu machen und sich ein paar spezielle Ausdrücke des Dozenten zu notieren.
Eigentlich war der Typ … Janara hätte nicht sagen können, was sie von dem Mann halten sollte. Irgendwie … Fast glaubte sie, schon einmal von ihm geträumt zu haben, und eine entsprechende Bemerkung lag ihr bereits auf den Lippen, aber in Gedanken hörte sie Myras abfällige Antwort “Der und Traummann? Nun übertreib mal nicht!” Janara schüttelte unmerklich den Kopf. Sie wusste, sie hätte geantwortet, antworten müssen, dass sie es ja nicht so meine. Aber wie dann? Besser, sie ließ sich nichts anmerken.
Für einen, der schon eine Interstellarreise und erste Jahre an der Raumakademie hinter sich hatte, sah er extrem jung aus. Anfang 40 vielleicht. Jünger als Dad. Das war wahrscheinlich den Kälteschlafphasen geschuldet, die er durchlaufen hatte. Er hatte seinen Flug zu einer Zeit angetreten, als die Astronauten zum ersten Mal ihre Schlafsärge im Wechsel selbst einstellen durften. Sieben Frauen, sieben Männer. Keine Paare am Anfang. Ob sie sich fanden, ergab sich erst in der Gemeinschaft des Fluges. Zufälle. Denn sie hatten sich geeinigt, dass immer nur zwei bis drei Besatzungs-mitglieder den irdischen Wechsel von Tag und Nacht simulierten, den Flug überwachten. Es konnte also Jahre dauern, bis die eine den oder die anderen fand, die besonders mit ihr harmonierten. Dass das Team theoretisch gut harmonieren würde, hatten Tests an dafür entworfenen Geräten ihnen bescheinigt. Man hatte sie auf eine Reise von etwa 20 Jahren im Wachzustand und einen allgemeinen 100jährigen „Dornröschenschlaf“ eingestimmt. Da gehörte es zum Programm, sich gegenseitig zu testen, zu harmonisieren oder zu verwerfen. Es konnte ja sein, dass sonst absolut nichts als Routinen abgearbeitet werden konnten, die auch Automaten hätten bewältigen können. Ihr Hauptziel war es, das Programm zur automatischen Erkennung von Lebensformen zu testen. Was nutzten denn Sonden, deren Untersuchungsprogramme unter Umständen einen Mangel enthielten, so dass sie entweder lauter Zivilisationen meldeten oder an Planeten vorbeiflogen, die vielleicht eine zweite Erde waren oder werden konnten? Sicher konnte man nur sein, wenn man die Untersuchungsergebnisse vor Ort verglich. Aber die Entfernung von einem Untersuchungsobjekt bis zum nächsten sei eben astro-nomisch ...
Eigentlich erzählte er ganz interessant. Er schien auch nicht so ein ichbezogener Schnösel zu sein. Seine Vorstellung hatte er auf den Namen beschränkt und sich Spielereien um sein Alter verkniffen. Wenn man seine Kälteschlafzeiten und die durchschnittliche Fluggeschwindigkeit bei interstellaren Flügen mitrechnete, dann war er wohl ein echtes lebendes Fossil.

Interessant, ja, auch, aber … Janara hätte nicht sagen können, warum sie trotz allem nur mit halbem Ohr auf das achtete, was der Mann vorn sprach. Irgendetwas schien um sie herum zu knistern und sie darauf einzustellen, dass das Wesentliche des Tages noch kommen würde ...

Samstag, 16. November 2013

SF-Story 3 in "Der lebende See": Kinder (Anfang)

(1)
Claudia heulte hemmungslos. Längst war aller Zellstoff aufgebraucht. Nimm dich endlich zusammen, meinte die eine innere Stimme - wozu denn, antwortete die andere, es sieht ja keiner.
Aber du musst Martin endlich antworten!
Es hat sowieso keinen Sinn mehr.
Martin hatte Claudia vor neun Monaten kontaktiert. Da blinzelte sie noch als ungewöhnlich attraktive 15-Jährige in die Webcam. Mit ausgestopftem Bikinioberteil unter dem hautengen Top. Martin fragte prompt danach und sie verkündete stolz: „75 C ...“ Früher zumindest hieß das so. „Gefällt´s dir?“ Was blödelten sie danach herum! Martin war ein Glücksfall. Er sah richtig scharf aus, ein Typ, dem die Mädchen garantiert hinterherliefen, zugleich aber wirkte er schon bei ihrem ersten „internetten“ Aufeinandertreffen überraschend reif trotz seiner 15. Verständig. Nicht so wie die Jungen, denen Claudia bis dahin begegnet war. Vielleicht …
Nein, es war besser, dass sie sich nicht wirklich nahe gekommen waren. Viel Zeit war ihr nicht mehr geblieben. Jeden Morgen hatte sie sich ängstlich nach Symptomen der Krankheit abgesucht. Und dann die ersten Zeichen entdeckt ... und die Bildverbindung einfach unterbrochen. Irgendetwas an dem Programm funktioniere nicht. „... Keine Ahnung, was. Vielleicht ein Problem mit unserem Netzanbieter. Reklamation ist raus … aber ob jemand sie bearbeitet ...“
Seitdem chatteten sie wie in der Anfangszeit des Internets. Der eine schrieb, verschickte seinen Text und wartete auf die Antwort des anderen. Die Handynetze waren ja längst zusammengebrochen.
Später dann kam es Claudia vor, als alterte sie mit jedem Tag um ein Jahr. Sie übertrieb natürlich. Sie wäre dann ja schon 280 Jahre alt und das hatte es selbst in den besten Zeiten nicht gegeben. Aber kam sie sich mitunter nicht so vor?
Hätte sie Martin nicht doch einweihen, ihm zum Beispiel damals schreiben sollen, als sie sich das erste Mal nicht mehr die Zehennägel lackieren konnte? Weil sie nicht mehr dort unten ankam? Vor Schmerz hätte brüllen mögen? Bei aller Vernunft … Martin war doch nur ein Junge … was verstand der von gesund glänzenden Nägeln und dem Ekel, den ihre Füße jetzt bei ihr aus-lösten?
Immerhin konnte sie sich mit ihm über Bücher austauschen. Er las selbst noch richtige, verstand, was drin stand, diese Probleme von Greisen, die viel älter geworden waren als 30 Jahre. Er hörte ihr zu, wenn sie ihm von Sanne und Tim erzählte. So verständnisvoll, obwohl er gar keine Geschwister hatte und seine Bekannten auch nicht. Aber er gab sich große Mühe, ihr Tipps zu geben, worin sie die beiden unterrichten sollte und wie. Richtig gute sogar. In der Schule wäre Martin bestimmt Spitze gewesen und Lehrer geworden, vielleicht. Er lernte gerade Gitarre. Das wär was für Sanne. Die brauchte unbedingt Sexualkundeunterricht.
Tim war zwar nur 15 Monate jünger als Sanne, aber er zeigte glücklicherweise noch kein Interesse an solchen Dingen. Wie sollte Claudia das alles einer Neunjährigen erklären? Sanne sollte doch Bescheid wissen. Oder lieber noch nicht?
Sannes Blicke waren Claudia manchmal richtig unheimlich. Eiskalt lief es ihr dann den Rücken herunter. „Kann sein, die weiß schon alles. Alles, verstehst du, Martin“, hatte sie geschrieben,„... alles …“
Darauf war Martin nicht eingegangen.
Ach Martin …
Es ist bestimmt besser, dass du mich so … wieder schluchzte Claudia auf … so sexy in Erinnerung behältst. Was war das schon für ein Leben? Sie trug inzwischen einen ganzen Millimeter Farbcreme auf, um noch als Frau wahrgenommen zu werden und nicht als Greisin. Obwohl … in den letzten Wochen war Claudia überhaupt nicht mehr draußen gewesen. Längst erledigte Sanne alles, wozu man raus musste. Einkaufen und so. Sanne blieb in letzter Zeit lange draußen weg. Wenn Claudia fragte, wie sie zum Beispiel zu dem frischen Gemüse gekommen war, lächelte sie nur still wissend in sich hinein. Wie viel wusste sie vom Leben? Zu viel, bestimmt zu viel!
War das seltsam. Nicht einmal erwähnte Martin ihr gegenüber die Krankheit. Obwohl es doch nichts Wichtigeres gab auf der Welt. Alle redeten von ihr. Ahnte er, warum auch sie das Thema umging?

Ganz plötzlich wurde es Claudia bewusst. Martin war doch im selben Alter. Vielleicht klemmte, seit sie sich nur noch schriftlich verständigten, ein Foto von ihr an seinem Monitor. Er saß am Computer, starrte ihr Bild an, seinen Penis in der Hand ... Die meisten Jungen machten das so. Und da bemerkte er, dass es nicht ging. Dass da nur etwas Schwabbeliges zwischen seinen Beinen hing und sich ohne Wirkung streicheln ließ trotz Claudias gewagtestem Foto. Nichts! Das war vielleicht für einen Jungen noch viel schlimmer als ihr Altern als Frau. Denn noch, als sie schon aussah wie Ende 30, war sie eine Frau, nach der die Männer sich umdrehten. Martin war vielleicht schon längst kein Mann mehr, also vom Selbstgefühl, und er hatte es die ganze Zeit verleugnet. Dann chatteten sie in den letzten Wochen also deshalb so viel miteinander, weil auch Martin kaum den Weg auf die Straße schaffte. Claudia versuchte sich den Jungen mit dem Gesicht eines Greises vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Nein, es klappte einfach nicht. Vor Monaten hatte er doch noch Kopfstand vor dem Kameraauge gemacht, um sich so mit ihr zu unterhalten, und nun lief er über einen Rollator gebeugt herum? Nein! Das mochte und wollte Claudia sich nicht ausmalen. ...