Mittwoch, 27. November 2013

SF-Story 7 in "Der lebende See": Zum letzten Mal FKK (Anfang)


Er lächelte. Alles war doch noch wie in den Jahren zuvor – was hatte er denn erwartet? „Wasserschutzgebiet“. Dasselbe rechteckige Hinweisschild wie eh und je und daneben das dreieckige mit der Eule „Landschaftsschutzgebiet“. Nichts deutete darauf hin, dass hier inzwischen die Außenstation eines biologischen Forschungsinstituts eröffnet haben sollte. Im lokalen Werbeblättchen war dazu ein kleiner Artikel erschienen. Es wurde vor dem wilden Baden im Testsee gewarnt. Man erprobe neuartige Methoden der Sauberhaltung des Wasserbiotops. Biologische. Solche, bei denen alle Stoffe, die komplizierter als H2O waren, radikal und schnell abgebaut würden. Klar. Zu Beginn jeder Saison wurden Storys verbreitet, die den Einsatz von Ordnungskräften gegen die Wildbader von vornherein unnötig machen sollten. Natürlich vergeblich.

Hinter Reinhard ruhte die Reihe der parkenden Autos am Straßenrand. Eindeutig zu viele, als dass sie alle den Anwohnern gehören konnten. Schnell rüber über die Marienstraße. Nun ging es nur noch den schmalen Pfad weiter. Wenn Reinhard jetzt eine Familie im Gänsemarsch oder Radfahrer entgegengekommen wären, hätte er auf den Wiesenrand ausweichen müssen. Es kam aber niemand. Dafür stieß er auf den Hauptweg und der tauchte in ein strauch- und baumkronenüberschattetes Wegstück ein. Man musste schon wissen, wohin man wollte. Er wusste es. Nun kam die nächste Gabelung. Rechts die Strandecke für die Ghetto-Nackten, links der freie Strandabschnitt, an dem sich Nackte und Textilierte relativ harmonisch mischten. Vielleicht die Bekleideten eher weiter hinten, zur Insel hin.
Reinhard wählte den linken Pfad. Das hatte einen Nachteil: Er ging direkt auf den Müllpunkt zu.
Der Müllpunkt war ein typisches Produkt deutscher Bürokratie. Natürlich durfte es an einem See im Naturschutzgebiet keine Badestelle geben. Wo keine war, konnte es aber auch keine sanitären Einrichtungen, Müllsammelplätze und ähnliche dazu gehörende Dinge geben. Andererseits gab es diese Badestelle seit Jahrzehnten. Richtiger: Es wurde rund um den gesamten See ge-lagert, um zu baden, nur an dieser Stelle eben geballt. Also hatte irgendwann einmal jemand am Beginn dieses Strandes, der kein Badestrand sein durfte, eine Stange eingepflanzt und an dieser Stange einen großen blauen Plastiksack befestigt. So hätte „man“ dort seinen Müll hineinstopfen können.
Der Sack wurde jeweils Anfang des Jahres ausgetauscht. Reinhard kannte den Platz um den Müllsack nur in immer gleichem Zustand: Etwa im Umkreis von zwei Metern lagen Joghurtbecher und Reste vergangener Zeiten so sorgsam verstreut, als hätten Wildschweine die Hoffnung auf Fressbares zu spät aufgegeben. Vielleicht sollte dieser Anblick die eintreffenden Badelustigen von ihrem Vorhaben abhalten. Schon lange gingen die aber mit galantem Wegseh-Blick daran vorüber. Natürlich auch Reinhard. Diesmal aber hatte der blaue Sack einen Bruder bekommen, und jemand hatte sehr sorgfältig allen herumliegenden Müll beseitigt. Jedenfalls war kein einziges Teil zu sehen, das nicht natürlich gewachsen wäre. Badende waren allerdings so viele am Rand des Sees verstreut wie in den Jahren zuvor.

Reinhard fand es gut. Endlich kümmerte man sich um das Wohlbefinden der Badegäste. Er entledigte sich seiner Kleidung. Achtlos platzierte er sie neben der ausgebreiteten Decke und den Schuhen. Noch ein Kontrollblick: Es waren keine Hirsche in unmittelbarer Nähe. Nachdem er nicht mehr mit Frau und Tochter aufwarten konnte, war es ihm eine echte Peinlichkeit, für einen Hirsch gehalten zu werden. Aber sollte er deshalb etwa mit der Tradition des Nacktschwimmens brechen? Geballt traten die Hirsche nur auf der unmittelbar gegenüberliegenden Seite des Sees auf. Meist lungerten ganze Gruppen tief gebräunter nackter Männer miteinander plaudernd am Ufer herum, um ein paar auffällig unauffällige Blicke auf sich ausziehende junge Mädchen werfen zu können. Auf Reinhards Seite gab es auch diesen Badetyp „männlich, alleinstehend, ab 40 Jahre“. Aber hier achtete wenigstens jeder auf ausreichenden Abstand zum Nächsten. Alles war wie seit Jahren. Nur dass noch mehr Männer in Boxershorts oder anderweitig ihre Mannespracht verbergend herumliefen. Reinhard holte das Taschenbuch heraus, das ihm seinen Mix aus Bücherlesen am Sonnengrill und Nachbarschaftsstudien erlaubte. Irgendwann dann war seine Haut vorn, hinten, rechts und links etwa gleich heiß. Zeit, sich abzukühlen.

Sonntag, 24. November 2013

SF-Story 6 in "Der lebende See": Mit dem Toaster fing es an oder Die Kraft der linken Hand (Anfang)

Die Geschichte der Menschheit gliedert sich für mich in zwei Phasen: die Zeit bevor und die Zeit, nachdem mein Toaster klemmte.
Wenn ich aufstand, also in der Zeit davor, tat ich immer so, als hätte ich es verdammt eilig, zur Arbeit zu kommen. Ich kämpfte die Müdigkeit mit vielen Tricks nieder und überlegte, an welchen Stellen ich Zeit sparen konnte. Besonders wichtig erschien es mir, die morgendlichen Aufgaben straff durchzuorganisieren. Im Kopf hatte ich den genauen Ablaufplan der Kleinigkeiten, welche bis zum Arbeitsbeginn zu erledigen waren. Da war das Frühstück zu bereiten, Bad und Toilette zu bewältigen, der Computer hoch-zufahren und so weiter. Möglichst mussten die Arbeitsgänge so angeordnet werden, dass ich nirgendwo warten musste, dass also – nur so als Beispiel – der Computer hochfuhr, während ich frühstückte, oder der Toaster seine Aufgabe erfüllte, während ich mich wusch, aber der Toast noch heiß genug war, wenn ich ihn schmieren und essen konnte.
Entscheidend war, dass ich an jenem Morgen zum Frühstück wieder einmal Toastbrot beschmieren wollte. Dazu musste ich die Scheiben natürlich zuerst toasten. Wie gesagt: Das Warten auf den Toaster war einer jener Zeiträume, in denen ich anderes Nützliches erledigte. Ich schob also zwei Scheiben in den Apparat und eine legte ich quer darüber, um die Restwärme auszunutzen. Wie immer war eine kurze Toastzeit eingestellt. In dem Moment, in dem ich den Schalter nach unten drückte, war ich gedanklich bereits im Büro beim Computer, der in aller Ruhe hochfahren sollte. Ich lief ins Wohnzimmer, drückte ON und ging ins Bad. Es war immer ein wunderbares Gefühl, wenn ich beim Frischmachen wusste, dass zur selben Zeit mehrere Geräte etwas für mich schafften. Dieses Gefühl wurde an jenem Morgen aber durch ein anderes gestört: Ohne dass dies zu erwarten gewesen wäre, vertrieb ein kräftiges Aroma von frisch Verbranntem alle anderen Gerüche.
Bereits in der Tür zum Korridor begrüßte mich Rauch. Als ich jedoch – nun schon stärker beunruhigt – die Küchentür geöffnet hatte, stand ich plötzlich in undurchdringlichem Qualm. Hätte ich ausgerechnet da an die Weltgeschichte denken sollen, nur weil ich das sonst fast immer tat? Ich tat es jedenfalls nicht. Fast gleichzeitig riss ich den Stecker aus der Dose, packte mit einem Tuch den Toaster, schleuderte ihn in die Spüle (ein braunes Muster ist immer noch zu sehen), befeuchtete das Tuch und mit dem Tuch die schwelende Tapete, schob den Blumentopf vom Fensterbrett, riss das Fenster auf, rannte ins Wohnzimmer, riss auch dort das Fenster auf, begann tief einzuatmen … und als ich darüber nachdachte, was ich frühstücken könnte und dass ich glücklicherweise noch einen halben Eimer Restfarbe vom letzten Küchenanstrich im Keller hatte, interessierten mich Datum oder Weltgeschichte immer noch nicht. Eher, ob ich eine Rauchvergiftung haben könnte, und wie lange der Gestank in der Wohnung bleiben würde. Ob mir im Ablauf der sich überschlagenden Ereignisse ein Stück Film fehlen könnte, ich vielleicht einen elektrischen Schlag bekommen und es geblitzt hatte oder Ähnliches, weiß ich nicht mehr. Heute bilde mir das ein, aber wahrscheinlich habe ich mir das nachher dazugedacht. Eben, weil es so wahrscheinlich ist … Aber um ganz ehrlich zu bleiben: An den alles entscheidenden Punkt – und den muss es gegeben haben – kann ich mich nicht erinnern. Ich setzte den Tag fast normal fort … also soweit eine Wohnung voller Restrauch normal ist.
Dann aber besuchte mich mein Sohn. Er beklagte sich wie immer über seine Probleme beim Studium und ich wies ihn darauf hin, dass das alles viel leichter zu ertragen wäre, wenn er denn endlich eine zu ihm passende Freundin fände (es stellte sich heraus, dass sein „Studienproblem“ in einer bestand, die ihn gerade hatte abblitzen lassen) und er würde das schon packen. Ein Gespräch unter Männern also, und es war nur ganz natürlich, dass ich ihm väterlich ermunternd auf die Schultern klopfte. Erst viel später wurde mir bewusst, dass ich mit der linken Hand zugeschlagen hatte.
Man stelle sich meine Verblüffung vor, als mir mein Sohn vielleicht eine halbe Stunde später ohne Vorwarnung erklärte, er habe sich das genau überlegt und er habe beschlossen, er würde Kommunist. Wörtlich genau dies!
Bis zu diesem Augenblick war die einzige politische Rolle, für die er sich je interessiert hatte, die des Magiers in „World of Warcraft“. Selbst ich hatte ihn im Unterschied zu den meisten anderen Menschen, mit denen ich zu tun gehabt hatte, nicht mit Politischem belästigt. Wissen quält und über die Leser der BLÖD-Zeitung hätte Jesus sicher gesagt, dass glücklich sei, wer da arm ist am Geiste. Warum also sollte ich meinem Sohn nicht ein Stück Glück gönnen – noch dazu, wo er mir an fast allen Tagen des Jahres fern war und ich ihn deshalb nie hätte beschützen können? Irgendwann hatte ich es aufgegeben, ihn zu belehren – er war eben anders als ich.

Und nun begann er mir einen Vortrag zu halten! ...