Dienstag, 5. Oktober 2010

… mit einem unnützen mädchen (1)


 Die folgende Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition. 

… mit einem unnützen mädchen

Es war der 25. November. Ich schlief. Was ich noch nicht wusste: Mein Computerwecker war bei null Uhr stehen geblieben und meine Servicenummer (fakultativ) 325 345 365 existierte nicht mehr.
Auch Tanja schlief. Sie war in der Nacht aus ihrem Bett gestiegen und die paar Schritte barfuß zu mir getapst. Ich hatte ihr wie immer etwas Beruhigendes entgegengebrummt und sie an mich gezogen. Die kühlen 15 Grad waren uns beiden nicht aufgefallen. Auch der Sauerstoffgehalt der Luft war erst wenig abgesunken.
Tanja ist das dritte in meinem Bauch gewachsene Kind. Mir war damals nur die Leihmutterschaft als Gelderwerb geblieben. Das hatte Erfolg versprechend mit der Übergabe zweier Jungen begonnen. Die vermögenden Auftraggeberfamilien waren mit mir zufrieden. Die Trockenbaums versprachen sogar, mich später unsterblich zu machen, kamen aber nachher nicht mehr wieder darauf zurück. Das nächste Baby wurde als werdendes Mädchen identifiziert. Ich sollte es abtreiben. Für so was bedurfte man keiner althergebrachten Schwangerschaft. Ich hatte mich geweigert, war deshalb für meinen Beruf untragbar, und kümmerte dahin, immer an der Grenze, vom Netz genommen, abgeschaltet, gelöscht zu werden. Wie soll man Vulgärexistenzen wie mich verwerten? Allein in den illegalen Survivalzonen fragte keiner danach. Dort überlebten angeblich einige Outsider.
Richtige, eben unsterbliche Existenz steht nur der vermögenden Elite zu. Ohne mangelhaft konstruierte Körper sehen diese Menschen sich über Neuronennetzanschlüsse durch eine nach den eigenen Wünschen ausgestaltete Landschaft laufen, schmecken sie die edelsten Speisen und genießen sie die traumhaftesten Partner – ohne jeden störenden Ärger. Ansonsten ändert sich nichts. Großrechnersysteme optimieren alle Lebensfunktionen normalerweise auch in der Vulgärexistenz, nur…
Ich hätte gern weiter geträumt, aber Tanja stößt mir ihren Ellenbogen zwischen die Rippen. Etwas stimmt nicht. Irgendetwas, was anders ist als sonst. Nur was? Grübeln ist sinnlos. Ich schlafe sowieso nicht wieder ein. Obwohl … Ich blinzele. Tanja hat sich halb aufgedeckt. Ich decke sie zu und schleiche ins Bad, komme aber nicht dazu, mir in Ruhe die Zähne zu putzen. Tanja steht plötzlich in der Tür.
Sie hält sich die linke Hand über die Augen und quäkt Warum läuft denn gar keine Musik? Das also ist es – das ewige leise Geräusch hat mir gefehlt. Ich laufe ins Wohnzimmer. Gespenstische Stille, der Monitor dunkel, das grüne Signallicht am Tower glimmt nicht. Ich drücke halb verärgert, halb verängstigt den großen schwarzen Knopf. Auf dem Bildschirm erscheinen drei überdimensionale Ausrufezeichen. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich sie anstarre, lösen sie sich pixelweise auf. An ihrer Stelle füllt ein Schriftzug den ganzen Monitor; Sie haben die vorausgegangenen automatischen Warnungen nicht ernst genommen. Tanja ist hinter mich getreten. Is was, Mama?—Nein, nein. Wie, um mich Lügen zu strafen, kommt die nächste Meldung. Sie haben seit sieben Tagen ihr genehmigtes Limit überschritten. Gleichen Sie innerhalb der nächsten 72 Stunden Ihr Konto aus! Sollten Sie diese Chance bis zum 28. November, 0.00 Uhr, missachten, wird auch Ihr restlicher Nutzercode gelöscht. Alle Schaltfunktionen verbleiben dann in der jeweiligen Ist-Stellung. Die Entsorgung Ihrer Überreste vereinbaren Sie bitte mit einer der zuständigen Firmen. Wählen Sie nach Betätigung des OK-Buttons eine aus!...


Montag, 4. Oktober 2010

Mit einem unnützen Mädchen (2)


 Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition:

... Ich setze mich zitternd auf den Computersessel. Ohne zu überlegen drücke ich OK. Sofort scrollt eine Liste über den Bildschirm. Ich versuche, den Computer abzuschalten, aber anstatt mir zu gehorchen setzt er sein Fremdprogramm bei den Ausrufezeichen fort. Das ist also eine Endlosschleife. Genauer, eine Schleife bis zum 27. November, 24.00 Uhr. Dann kommt die Dunkelheit, eine verschlossene Wohnungstür … oder eine nicht mehr verschließbare, sollte ich sie zuvor offen gelassen haben. Aber was hätte ich mit dem Offenlassen meiner Wohnungstür gewonnen, ohne elektronischen Code fürs Haus? Alle Zähler, jeder Strom, einfach alles wäre für mich unerreichbar. Ich wäre tot, bevor ich tot wäre. Und Tanja auch.
Beim zweiten Durchlauf der Schrift, beginne ich zu frieren. Ich bin nackt, so unendlich nackt. Mit starrem Blick renne ich an Tanja vorbei ins Bad und drehe den Hahn für das heiße Duschwasser bis zum Anschlag. Die auf mich einprasselnden Schauer röten mir augenblicklich die Haut. Dampf lässt den Spiegel erblinden. Die Tür geht auf. Tanja wirft ihr Nachthemd neben die Toilette. Ihr Lachen klingt fern. Bevor ich mich ihr richtig zugewendet habe, höre ich sie schreien. Au, Mama, das kocht ja. Ich komme wieder zu mir, regele die Wassertemperatur herunter und beginne, Tanja zu bespritzen. Die lässt am Waschbecken kaltes Wasser laufen, formt ihre Hände zu einer Schüssel und zielt auf meinen Bauch. Treffer! Ich quieke und bald sind wir außer Atem …
Wieder am Computer, beginne ich wie wild zu diktieren. Zum Mittagessen hole ich Tanjas Lieblingspizza aus dem Kühlschrank, und als sie nachmittags auf dem Hof spielen will, sage ich nur, Ich ruf dich dann. Da habe ich schon etwa 200 Mails versendet. Bettelbriefe, Bewerbungen mit der Bitte um Vorschuss, Anfragen nach einem Gelegenheitsjob.
zu den Outsidern? Mit Tanja? Inzwischen ist eine Anfrage nach einem Bild von ihr eingegangen. Wenn noch keine Haare zwischen den Beinen gewachsen seien… Woher hat dieser Ekelbock nur so schnell von meiner Tochter erfahren? Oder hängen sich die Programme der Kinderhändler einfach automatisch an Bewerbungsabsagen? Traurig werfe ich Tanjas Lieblingskleid in den Schmutzwäschebehälter.
Der 26. November vergeht ohne Auffälligkeiten. Ich kann mich einfach nicht entschließen. Was ich über die Outsider gehört habe, schreckt mich ab. Ein verwildertes Dasein mit Tanja? Nein.
Ich checke alle eingegangenen Rückmeldungen: 180 Absagen. Soll ich die unbeantworteten Mails zählen? Vielleicht kommt noch was Positives? Vier Bieter fragen nach Tanja. Alle wollen das Mädchen sofort benutzen. Bleibt wirklich nur die Möglichkeit, unter verschiedenen Formen des Entsorgens zu wählen?! Ich muss handeln. Sonst werden wir in der abgedichteten Wohnung ersticken oder verhungern oder verdursten. Dann wenigstens professionell entsorgt werden. Ich klicke den Katalog an.
Wir garantieren einen Abschied von der Vulgärexistenz für Mutter und Tochter in würdiger Gemeinschaft – schmerzfrei und glückstraumerfüllt. Das also. Eine steuerfinanzierte Leistung. Kaum bin ich auf der Pforte des abgebildeten Gebäudes, verkünden zwei seriös gekleidete Herren, dass sie gern für die gewünschte Operation zur Verfügung ständen.
Der Vertragstext blinkt auf. Bei einem Paragraphen erwache ich kurz. Was? Ich stelle alle meine funktionsfähigen Organe anderen Vulgärexistenzen zur Nachnutzung zur Verfügung … ? Lässt sich das ausschalten? Natürlich. Wir leben ja in einer freien Gesellschaft. Da kann jeder über seinen Körper verfügen. Nur wer auf Weiter klickt, bestätigt sein Einverständnis. Ich nicht. Ihr bekommt keine Ersatzteile aus meinem Körper … und aus Tanjas erst recht nicht. Mit dem Gefühl, es der Welt so richtig gezeigt zu haben, beende ich das Vertragsstudium und signiere mit Karte. 30 Stunden noch. ...


Sonntag, 3. Oktober 2010

Mit einem unnützen Mädchen (3)


 Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition:
...
Ich erzähle Tanja eine Gutenachtgeschichte. Dann streiche ich ihr über die Stirn und frage im Tonfall des vorangegangenen Märchens. Wenn plötzlich zwei Männer kämen und wollten uns beide an einen Ort holen, an dem wir noch nie gewesen sind und von wo wir nie mehr zurückkämen, möchtest du dann mit? Tanja murmelt Ist es da schön? Und ich antworte, Schöner als hier. Tanja ist zufrieden.
Als ich unter die Decke krieche, hat sie sich wie ein Embryo zusammengerollt. Kaum spürt sie meine Nähe, versucht sie mich wie einen Teddy zu umfassen. Obwohl ich sie ganz gleichmäßig atmen höre, kann ich nicht einschlafen.
27. November, 7.30 Uhr. Ich habe geträumt, in meinen Schützengraben dringt eine weiße Wolke ein. Winzige Sternchen krabbeln in meine Nase. Ich möchte allzu gern niesen, aber es geht einfach nicht. Ich hole tief Luft … und endlich pruste ich alle diese Gassternchen wieder aus, öffne die Augen und … sehe in Tanjas verschmitztes Gesicht. Sie lacht und dann krümmt sie sich und sieht hoch und krümmt sich schon wieder – wegen meiner Grimmasse. Endlich entdecke ich das Haar in ihren Fingern, das sie gerade aus meinem Nasenloch gezogen hat, und rufe Na warte! Wir balgen herum …unser letzter Tag.
Tanja ist beim Frühstück sehr still. Mit mir scheint etwas nicht in Ordnung. Tanja fragt nicht, guckt mich prüfend an. Aber was soll ich sagen? Die Wahrheit? Mühsam unterdrücke ich meine zitternde Wut wegen der Leute, die viele Leben auf ihrem Konto horten. Die sie nie verbrauchen. Die schon halb an ihre künftige virtuelle Welt angeschlossen sind. Ihre Ewigkeit funktioniert, solange die vulgäre Erde ihnen Energie in den Kreislauf pumpt. Mit einer Schaltung am großen Zentralcomputer wären alle Unsterblichen gelöscht.
Davon wage ich nicht zu träumen. Mein unnützes Ich, was soll ´s? Es ist der Lauf dieser Welt.
Meine Karte piept. Oh nein, jetzt schon? Habe ich nicht noch knapp sechzehn Stunden zu leben? In der Tür stehen tatsächlich zwei Herren. Sie sind korrekt gekleidet, schlichte graue Anzüge mit weißen Hemden, deutlich jünger, als ich sie von der Homepage her in Erinnerung habe. Wir sind wegen der Operation da. Wer von Ihnen soll verewigt werden?
Soll das witzig sein? Als ob sie uns ins ewige Leben brächten! Tanja drückt sich ängstlich an mich. Ich flüstere ihr zu Das sind die Männer, von denen ich dir erzählt habe. Noch immer verschüchtert, aber jetzt auch neugierig schaut Tanja hoch. Ich lege ihr einen Arm um und antworte Wir beide gemeinsam. Wenigstens das werden Sie uns wohl gönnen, oder? Die Männer sehen sich irritiert an. Ja, wir hatten das wohl missverstanden… Selbstverständlich. Die Wünsche unserer Kunden sind uns Befehl. Ich versuche, kühl und beherrscht zu wirken. Wenigstens, solange Tanja nicht heult.Wir sind gleich fertig.
Sie führen uns zu ihrem Fahrzeug. Wow! Was für eine versnobte Karosse! So was von früher: Ausgefallene Sonderanfertigung mit viel Platz im Innenraum und Extras. Schnell, leise und komfortabel. Und das für die letzte Fahrt des Lebens, bezahlt aus Steuermitteln! Wie bei künftigen Unsterblichen! Leider sind unsere Fenster abgedunkelt.
Tanja ist noch nicht richtig aus dem Staunen heraus – sie braucht immer lange, sich an neue Umgebungen zu gewöhnen – da müssen wir aussteigen und stehen vor einem hellen Gebäude. Man lässt uns keine Zeit zum Umsehen, schiebt uns weiter. Erst in einem Empfangssalon bleiben wir stehen. Unsere Begleiter ziehen sich zurück. Irgendwoher erklingt leise harmonische Musik. Wände in schlichten Ockertönen. An mehreren Stellen Regale und Schränkchen. Rechts ein riesiger Rollschrank.
Ich kann meinen Blick nicht länger von der Mitte des Raumes wegdirigieren. Dort wartet der OP-Tisch. Eine mit einem weißen Laken überzogene Liege. Über ihr ein Strahler wie beim Zahnarzt, nur größer. ...


Samstag, 2. Oktober 2010

Mit einem unnützen Mädchen (4 = Schluss)


   
... Dahinter eine junge Frau in Kittel und Kopftuch, beides lindgrün. Sie tritt vor, verbeugt sich andeutungsweise und erklärt Ich bin Schwester Jutta. Ich werde Sie auf die Operation vorbereiten. Herr Trockenbaum kann leider nicht dabei sein. Allerdings …Sie sieht zu Tanja. … fehlen mir Instruktionen… Wer von Ihnen soll zuerst auf die Liege? Tanjas Hand verkrampft in der meinen. Zusammen, bitte! Der Platz auf der Liege reicht doch für zwei. Schwester Jutta zieht die Brauen hoch, zögert einen Moment, antwortet dann aber ruhig Wie Sie wünschen. An e i n e Maschine?
Ja, bitte! Als wäre das ein besonderes Geschenk. Tanja hat jetzt mein rechtes Bein umschlungen. Ich wage nicht, nach unten zu sehen. Trockenbaum? Was hat…? Sollte…? Schwester Jutta spricht mir in den Zweifel hinein. Wir gehen erst einmal ins Bad. Legen Sie bitte Ihre Kleidung ab. … Soll ich dem kleinen Engel helfen? … Selbstverständlich machen Sie das besser. Sie vertraut Ihnen.
Die Luft ist angenehm warm. Mein Körper fühlt sich gestreichelt. Tanja hat sich auf die Seite gedreht und drückt mir ihren Kopf an die Brust. Als ich spüre, dass die Schwester vom Fußende aus ein Tuch über unsere Körper zieht, beginne ich zu strampeln. Bitte nicht! Warum denn schon über unsere noch lebenden Körper? Die Schwester fragt nichts. Im selben Moment ist mir mein Gedanke peinlich. Schwester Jutta tut doch nur ihre Pflicht wie bei allen anderen. Tanjas Locken kitzeln meine Brust. Tanja zittert.
So, Prinzessin, mit deinem Schopf fangen wir an. Die Stimme kommt wie von weither. Inzwischen liegt kaltes Leder an meinen Hand- und Fußgelenken und um den Hals. Um Tanjas auch. Ich fühle ihren an meine Seite gepressten Körper. Während es einschmeichelnd summt, wird ihr Druck stärker.
Sehen Sie nicht hin! Damit erreicht die Schwester, dass ich den Kopf so hoch hebe, wie die Halskrause es zulässt. Die Locken, Tanjas wunderschöne Locken! Da liegt ja eine Glatzkopfpuppe! Als spürte das Kind meinen Blick auf seinem entblößten Schädel, hebt es den Kopf. Ich heule. Ich bäume mich auf. Mit einer mir unbekannten Kraft lockere ich die Riemen. Ich befreie erst mich aus den Fesseln, dann Tanja, schlage um mich, stoße die verdutzte Jutta zurück, packe mein Kind. Renne. Egal, ob wir für diese Welt tot sind. Wir werden leben.
Die Schwester brüllt: Aber warum wollen Sie denn nicht ewig…Auch Tanja wehrt sich, macht sich schwer.
… Also nicht abgeschaltet? Trockenbaums haben an mich gedacht? Ich schleife meine kahlköpfige Tochter hinter mir her. Bleibe zögernd stehen. Drehe um. Höre Schritte näher kommen. Laufe wieder los. Zweifle und bremse. Denke, welche Ewigkeit die Maschine auch vollstreckt; draußen bleibt uns ein Vielleicht. AberBekomme den Gedanken nicht zu Ende. Die Verfolger haben uns fast erreicht. Da zieht mich Tanja vorwärts. Mit mir an der Hand gegen die anderen um die Wette zu laufen – was für ein Spaß. Meine Lunge ist voll, mein Herz pumpt kräftig, meine Füße federn. Ich kann schneller rennen als Tanja, aber ich lasse sie nicht los …


Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition