Montag, 4. Oktober 2010

Mit einem unnützen Mädchen (2)


 Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition:

... Ich setze mich zitternd auf den Computersessel. Ohne zu überlegen drücke ich OK. Sofort scrollt eine Liste über den Bildschirm. Ich versuche, den Computer abzuschalten, aber anstatt mir zu gehorchen setzt er sein Fremdprogramm bei den Ausrufezeichen fort. Das ist also eine Endlosschleife. Genauer, eine Schleife bis zum 27. November, 24.00 Uhr. Dann kommt die Dunkelheit, eine verschlossene Wohnungstür … oder eine nicht mehr verschließbare, sollte ich sie zuvor offen gelassen haben. Aber was hätte ich mit dem Offenlassen meiner Wohnungstür gewonnen, ohne elektronischen Code fürs Haus? Alle Zähler, jeder Strom, einfach alles wäre für mich unerreichbar. Ich wäre tot, bevor ich tot wäre. Und Tanja auch.
Beim zweiten Durchlauf der Schrift, beginne ich zu frieren. Ich bin nackt, so unendlich nackt. Mit starrem Blick renne ich an Tanja vorbei ins Bad und drehe den Hahn für das heiße Duschwasser bis zum Anschlag. Die auf mich einprasselnden Schauer röten mir augenblicklich die Haut. Dampf lässt den Spiegel erblinden. Die Tür geht auf. Tanja wirft ihr Nachthemd neben die Toilette. Ihr Lachen klingt fern. Bevor ich mich ihr richtig zugewendet habe, höre ich sie schreien. Au, Mama, das kocht ja. Ich komme wieder zu mir, regele die Wassertemperatur herunter und beginne, Tanja zu bespritzen. Die lässt am Waschbecken kaltes Wasser laufen, formt ihre Hände zu einer Schüssel und zielt auf meinen Bauch. Treffer! Ich quieke und bald sind wir außer Atem …
Wieder am Computer, beginne ich wie wild zu diktieren. Zum Mittagessen hole ich Tanjas Lieblingspizza aus dem Kühlschrank, und als sie nachmittags auf dem Hof spielen will, sage ich nur, Ich ruf dich dann. Da habe ich schon etwa 200 Mails versendet. Bettelbriefe, Bewerbungen mit der Bitte um Vorschuss, Anfragen nach einem Gelegenheitsjob.
zu den Outsidern? Mit Tanja? Inzwischen ist eine Anfrage nach einem Bild von ihr eingegangen. Wenn noch keine Haare zwischen den Beinen gewachsen seien… Woher hat dieser Ekelbock nur so schnell von meiner Tochter erfahren? Oder hängen sich die Programme der Kinderhändler einfach automatisch an Bewerbungsabsagen? Traurig werfe ich Tanjas Lieblingskleid in den Schmutzwäschebehälter.
Der 26. November vergeht ohne Auffälligkeiten. Ich kann mich einfach nicht entschließen. Was ich über die Outsider gehört habe, schreckt mich ab. Ein verwildertes Dasein mit Tanja? Nein.
Ich checke alle eingegangenen Rückmeldungen: 180 Absagen. Soll ich die unbeantworteten Mails zählen? Vielleicht kommt noch was Positives? Vier Bieter fragen nach Tanja. Alle wollen das Mädchen sofort benutzen. Bleibt wirklich nur die Möglichkeit, unter verschiedenen Formen des Entsorgens zu wählen?! Ich muss handeln. Sonst werden wir in der abgedichteten Wohnung ersticken oder verhungern oder verdursten. Dann wenigstens professionell entsorgt werden. Ich klicke den Katalog an.
Wir garantieren einen Abschied von der Vulgärexistenz für Mutter und Tochter in würdiger Gemeinschaft – schmerzfrei und glückstraumerfüllt. Das also. Eine steuerfinanzierte Leistung. Kaum bin ich auf der Pforte des abgebildeten Gebäudes, verkünden zwei seriös gekleidete Herren, dass sie gern für die gewünschte Operation zur Verfügung ständen.
Der Vertragstext blinkt auf. Bei einem Paragraphen erwache ich kurz. Was? Ich stelle alle meine funktionsfähigen Organe anderen Vulgärexistenzen zur Nachnutzung zur Verfügung … ? Lässt sich das ausschalten? Natürlich. Wir leben ja in einer freien Gesellschaft. Da kann jeder über seinen Körper verfügen. Nur wer auf Weiter klickt, bestätigt sein Einverständnis. Ich nicht. Ihr bekommt keine Ersatzteile aus meinem Körper … und aus Tanjas erst recht nicht. Mit dem Gefühl, es der Welt so richtig gezeigt zu haben, beende ich das Vertragsstudium und signiere mit Karte. 30 Stunden noch. ...


Sonntag, 3. Oktober 2010

Mit einem unnützen Mädchen (3)


 Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition:
...
Ich erzähle Tanja eine Gutenachtgeschichte. Dann streiche ich ihr über die Stirn und frage im Tonfall des vorangegangenen Märchens. Wenn plötzlich zwei Männer kämen und wollten uns beide an einen Ort holen, an dem wir noch nie gewesen sind und von wo wir nie mehr zurückkämen, möchtest du dann mit? Tanja murmelt Ist es da schön? Und ich antworte, Schöner als hier. Tanja ist zufrieden.
Als ich unter die Decke krieche, hat sie sich wie ein Embryo zusammengerollt. Kaum spürt sie meine Nähe, versucht sie mich wie einen Teddy zu umfassen. Obwohl ich sie ganz gleichmäßig atmen höre, kann ich nicht einschlafen.
27. November, 7.30 Uhr. Ich habe geträumt, in meinen Schützengraben dringt eine weiße Wolke ein. Winzige Sternchen krabbeln in meine Nase. Ich möchte allzu gern niesen, aber es geht einfach nicht. Ich hole tief Luft … und endlich pruste ich alle diese Gassternchen wieder aus, öffne die Augen und … sehe in Tanjas verschmitztes Gesicht. Sie lacht und dann krümmt sie sich und sieht hoch und krümmt sich schon wieder – wegen meiner Grimmasse. Endlich entdecke ich das Haar in ihren Fingern, das sie gerade aus meinem Nasenloch gezogen hat, und rufe Na warte! Wir balgen herum …unser letzter Tag.
Tanja ist beim Frühstück sehr still. Mit mir scheint etwas nicht in Ordnung. Tanja fragt nicht, guckt mich prüfend an. Aber was soll ich sagen? Die Wahrheit? Mühsam unterdrücke ich meine zitternde Wut wegen der Leute, die viele Leben auf ihrem Konto horten. Die sie nie verbrauchen. Die schon halb an ihre künftige virtuelle Welt angeschlossen sind. Ihre Ewigkeit funktioniert, solange die vulgäre Erde ihnen Energie in den Kreislauf pumpt. Mit einer Schaltung am großen Zentralcomputer wären alle Unsterblichen gelöscht.
Davon wage ich nicht zu träumen. Mein unnützes Ich, was soll ´s? Es ist der Lauf dieser Welt.
Meine Karte piept. Oh nein, jetzt schon? Habe ich nicht noch knapp sechzehn Stunden zu leben? In der Tür stehen tatsächlich zwei Herren. Sie sind korrekt gekleidet, schlichte graue Anzüge mit weißen Hemden, deutlich jünger, als ich sie von der Homepage her in Erinnerung habe. Wir sind wegen der Operation da. Wer von Ihnen soll verewigt werden?
Soll das witzig sein? Als ob sie uns ins ewige Leben brächten! Tanja drückt sich ängstlich an mich. Ich flüstere ihr zu Das sind die Männer, von denen ich dir erzählt habe. Noch immer verschüchtert, aber jetzt auch neugierig schaut Tanja hoch. Ich lege ihr einen Arm um und antworte Wir beide gemeinsam. Wenigstens das werden Sie uns wohl gönnen, oder? Die Männer sehen sich irritiert an. Ja, wir hatten das wohl missverstanden… Selbstverständlich. Die Wünsche unserer Kunden sind uns Befehl. Ich versuche, kühl und beherrscht zu wirken. Wenigstens, solange Tanja nicht heult.Wir sind gleich fertig.
Sie führen uns zu ihrem Fahrzeug. Wow! Was für eine versnobte Karosse! So was von früher: Ausgefallene Sonderanfertigung mit viel Platz im Innenraum und Extras. Schnell, leise und komfortabel. Und das für die letzte Fahrt des Lebens, bezahlt aus Steuermitteln! Wie bei künftigen Unsterblichen! Leider sind unsere Fenster abgedunkelt.
Tanja ist noch nicht richtig aus dem Staunen heraus – sie braucht immer lange, sich an neue Umgebungen zu gewöhnen – da müssen wir aussteigen und stehen vor einem hellen Gebäude. Man lässt uns keine Zeit zum Umsehen, schiebt uns weiter. Erst in einem Empfangssalon bleiben wir stehen. Unsere Begleiter ziehen sich zurück. Irgendwoher erklingt leise harmonische Musik. Wände in schlichten Ockertönen. An mehreren Stellen Regale und Schränkchen. Rechts ein riesiger Rollschrank.
Ich kann meinen Blick nicht länger von der Mitte des Raumes wegdirigieren. Dort wartet der OP-Tisch. Eine mit einem weißen Laken überzogene Liege. Über ihr ein Strahler wie beim Zahnarzt, nur größer. ...