Sonntag, 1. Dezember 2013

SF-Story 8 in "Der lebende See": Kein Zurück zur Natur (Anfang)

Sie hassten die Nachtwachen. Und zugleich liebten sie sie. Keine Dienstzeit bot eine so große Aussicht auf ungestörtes Abhängen. Und durch die Art des Objektes war normalerweise Erholung angesagt. Natur pur. Keine Kaserne in unmittelbarer Nähe, nur eine Zufahrt. Man mochte es Verschwendung nennen, aber es gab die Hauptstraße und eben diese Versorgungsstraße. Hier näherten sich nur Militärfahrzeuge. Wenn denn was los war. Gelegentlich war vorn was los. Irgendwelche schlafwütigen Pazifisten gingen ihnen auf die Nerven. So ein Bombodrom senke den touristischen Wert der Gegend. Gerade die zurückgezogene Stille sei ihre Besonderheit. Wanderwege, Heide, Bäume, vor allem Kiefern. Dabei … sollten die Bombenabwürfe denn in Kreuzberg oder Barmbek geübt werden? Hier war die toteste Hose und hier lag schon so viel Kampfschrott, dass es auf die paar neuen Tests auch nicht mehr ankam. „Sperrgebiet!“ Die Schilder waren ja nicht zu übersehen. Was das für ein Aufwand wäre, allein die Munitionsreste zu bergen! Also machte man weiter.
Übermäßig beliebt war der Platz bei den Soldaten nicht. Aber auch das war nicht sonderlich schlimm. Hier hatte kaum einer seinen festen Standort. Gerade einmal genügend Leute, um eben abzusichern, dass keine Lebensmüden sich im Revier herumtrieben. Nur bei Übungen war was los.
Als die beiden Gefreiten Käsich und Maurer dem Ende der Nachtwache entgegensahen, war keine Übung. Normalerweise hatte der Dienst hier einen eigenen Vorzug: So viele Vorschriften es auch geben mochte, hier wurde kaum eine ernst genommen. Warum auch? Wer hätte sie kontrollieren sollen? Dafür eignete sich die Zeit zwischen tiefer Dunkelheit und Morgendämmerung zu dummen Späßen fast so gut wie zu echten Männergesprächen.

… „Du spinnst!“, knurrte gerade der eine.
Das glaub ich einfach nicht. Und wenn sie zehnmal eine solche Wette verloren hätten. Glaubst du im Ernst, du kannst mir das weiß machen? Dass Kati vor denen gestrippt hat? Nicht Kati. Und hier schon gar nicht.“
Ronny“, erwiderte der andere erregt. „wenn ich es dir doch sage! Max hat das alles ganz genau beschrieben: Fünf Schnecken aus Bünnewitz, eben auch Kati dabei, in einem Opel Astra. Immer eine nach der anderen raus. Alle in Jeansröcken. Die als Erstes runter. Dann die T-Shirts, die Schuhe, die Zwillingsmützen … alles auf einen Haufen. Max sind fast die Augen ausgefallen. Zum Schluss haben sie ihre Strings unter die Jungs geworfen. Max hat Katis erwischt. Ein Duft … Ein Duft sag ich dir …“
Ach, halt´s Maul! Wer weiß, wo er den her hatte.“
Trotzdem starrte Ron auf die leere Straße in Richtung Siedlung, als würde im nächsten Moment ein Oldtimer mit Mädchen aus dem Dämmerlicht auftauchen.
Kati, nee. Kannst erzählen, was de willst. Ich glaub das nicht. Max macht nur auf dicke Hose.“
Der Gefreite Käsich hatte sich eine Zigarette angezündet und bot Ron Feuer an. Ron sog gierig Rauch ein. Inzwischen hatten die beiden ihre Position getauscht. Ron blickte nun auf das zum Abwurf-platz gehörende Waldgebiet. Eigentlich waren die Kiefern nur schemenhaft zu erkennen.
In Rons Gesicht vollzog sich dabei eine Wandlung. Das Entspannte wich aus seinen Zügen. Konzentriert versuchte er etwas zu erkennen. Was stimmte da nur nicht? Irgendetwas an dem Bild war ungewöhnlich. Wenn es nicht so peinlich gewesen wäre, hätte er Käsich angestoßen und … damit eben eingestanden, dass in ihm gerade eine unbestimmte Unruhe zu Angst wurde. Was war das nur?
Ron drehte sich weg. Krampfhaft versuchte er, sich das Bild der verführerischen Mädchen vorzustellen. Kati, ja, die hatte er stark gefunden.
Ruckartig drehte er sich zurück. Da war es wieder. Nein, anders. Rons Finger verkrampften unbewusst um die MPi. Seinem Partner fiel das nun doch auf. „Eh, Ronny, was ist denn? Spinnst du? Siehst du Gespenster?“
So kommt mir das vor. Ja. Aber sieh doch selbst! Guck dir die Bäume an! Fällt dir nichts auf?“
Auch Käsich musterte nun die sich immer deutlicher abzeichnenden Silhouetten. „Meinst du ...“
Ich bin doch nicht blöd! Ich hätte gewettet, die Bäume standen vorhin anders.“
Auch Käsich hielt nun seine Waffe fester.
Mensch, Käse, warum kriegen wir nie die geilen Wetten ab?“
Ronny, du meinst …?“
Was denkst denn du? Ich hab zwar noch kein Schwein gesehen, aber wenn da nicht der Spieß dahintersteckt, fress ich mein Koppel, gebraten und mit Pfeffer. Sieh nicht hin!“
Käsich war nicht recht überzeugt. Der Witz, sich mit einer als Bäume verkleideten Kompanie der Nachtwache zu nähern, war Oberfeldwebel Stöttritz ja als Idee zuzutrauen. Aber wie hätte er das umsetzen sollen? Und gefährlich war es auch noch.

Die beiden Wachsoldaten blickten scheinbar gebannt weg in Richtung Siedlungsstraße. ... 

Mittwoch, 27. November 2013

SF-Story 7 in "Der lebende See": Zum letzten Mal FKK (Anfang)


Er lächelte. Alles war doch noch wie in den Jahren zuvor – was hatte er denn erwartet? „Wasserschutzgebiet“. Dasselbe rechteckige Hinweisschild wie eh und je und daneben das dreieckige mit der Eule „Landschaftsschutzgebiet“. Nichts deutete darauf hin, dass hier inzwischen die Außenstation eines biologischen Forschungsinstituts eröffnet haben sollte. Im lokalen Werbeblättchen war dazu ein kleiner Artikel erschienen. Es wurde vor dem wilden Baden im Testsee gewarnt. Man erprobe neuartige Methoden der Sauberhaltung des Wasserbiotops. Biologische. Solche, bei denen alle Stoffe, die komplizierter als H2O waren, radikal und schnell abgebaut würden. Klar. Zu Beginn jeder Saison wurden Storys verbreitet, die den Einsatz von Ordnungskräften gegen die Wildbader von vornherein unnötig machen sollten. Natürlich vergeblich.

Hinter Reinhard ruhte die Reihe der parkenden Autos am Straßenrand. Eindeutig zu viele, als dass sie alle den Anwohnern gehören konnten. Schnell rüber über die Marienstraße. Nun ging es nur noch den schmalen Pfad weiter. Wenn Reinhard jetzt eine Familie im Gänsemarsch oder Radfahrer entgegengekommen wären, hätte er auf den Wiesenrand ausweichen müssen. Es kam aber niemand. Dafür stieß er auf den Hauptweg und der tauchte in ein strauch- und baumkronenüberschattetes Wegstück ein. Man musste schon wissen, wohin man wollte. Er wusste es. Nun kam die nächste Gabelung. Rechts die Strandecke für die Ghetto-Nackten, links der freie Strandabschnitt, an dem sich Nackte und Textilierte relativ harmonisch mischten. Vielleicht die Bekleideten eher weiter hinten, zur Insel hin.
Reinhard wählte den linken Pfad. Das hatte einen Nachteil: Er ging direkt auf den Müllpunkt zu.
Der Müllpunkt war ein typisches Produkt deutscher Bürokratie. Natürlich durfte es an einem See im Naturschutzgebiet keine Badestelle geben. Wo keine war, konnte es aber auch keine sanitären Einrichtungen, Müllsammelplätze und ähnliche dazu gehörende Dinge geben. Andererseits gab es diese Badestelle seit Jahrzehnten. Richtiger: Es wurde rund um den gesamten See ge-lagert, um zu baden, nur an dieser Stelle eben geballt. Also hatte irgendwann einmal jemand am Beginn dieses Strandes, der kein Badestrand sein durfte, eine Stange eingepflanzt und an dieser Stange einen großen blauen Plastiksack befestigt. So hätte „man“ dort seinen Müll hineinstopfen können.
Der Sack wurde jeweils Anfang des Jahres ausgetauscht. Reinhard kannte den Platz um den Müllsack nur in immer gleichem Zustand: Etwa im Umkreis von zwei Metern lagen Joghurtbecher und Reste vergangener Zeiten so sorgsam verstreut, als hätten Wildschweine die Hoffnung auf Fressbares zu spät aufgegeben. Vielleicht sollte dieser Anblick die eintreffenden Badelustigen von ihrem Vorhaben abhalten. Schon lange gingen die aber mit galantem Wegseh-Blick daran vorüber. Natürlich auch Reinhard. Diesmal aber hatte der blaue Sack einen Bruder bekommen, und jemand hatte sehr sorgfältig allen herumliegenden Müll beseitigt. Jedenfalls war kein einziges Teil zu sehen, das nicht natürlich gewachsen wäre. Badende waren allerdings so viele am Rand des Sees verstreut wie in den Jahren zuvor.

Reinhard fand es gut. Endlich kümmerte man sich um das Wohlbefinden der Badegäste. Er entledigte sich seiner Kleidung. Achtlos platzierte er sie neben der ausgebreiteten Decke und den Schuhen. Noch ein Kontrollblick: Es waren keine Hirsche in unmittelbarer Nähe. Nachdem er nicht mehr mit Frau und Tochter aufwarten konnte, war es ihm eine echte Peinlichkeit, für einen Hirsch gehalten zu werden. Aber sollte er deshalb etwa mit der Tradition des Nacktschwimmens brechen? Geballt traten die Hirsche nur auf der unmittelbar gegenüberliegenden Seite des Sees auf. Meist lungerten ganze Gruppen tief gebräunter nackter Männer miteinander plaudernd am Ufer herum, um ein paar auffällig unauffällige Blicke auf sich ausziehende junge Mädchen werfen zu können. Auf Reinhards Seite gab es auch diesen Badetyp „männlich, alleinstehend, ab 40 Jahre“. Aber hier achtete wenigstens jeder auf ausreichenden Abstand zum Nächsten. Alles war wie seit Jahren. Nur dass noch mehr Männer in Boxershorts oder anderweitig ihre Mannespracht verbergend herumliefen. Reinhard holte das Taschenbuch heraus, das ihm seinen Mix aus Bücherlesen am Sonnengrill und Nachbarschaftsstudien erlaubte. Irgendwann dann war seine Haut vorn, hinten, rechts und links etwa gleich heiß. Zeit, sich abzukühlen.