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Sonntag, 1. Dezember 2013

SF-Story 8 in "Der lebende See": Kein Zurück zur Natur (Anfang)

Sie hassten die Nachtwachen. Und zugleich liebten sie sie. Keine Dienstzeit bot eine so große Aussicht auf ungestörtes Abhängen. Und durch die Art des Objektes war normalerweise Erholung angesagt. Natur pur. Keine Kaserne in unmittelbarer Nähe, nur eine Zufahrt. Man mochte es Verschwendung nennen, aber es gab die Hauptstraße und eben diese Versorgungsstraße. Hier näherten sich nur Militärfahrzeuge. Wenn denn was los war. Gelegentlich war vorn was los. Irgendwelche schlafwütigen Pazifisten gingen ihnen auf die Nerven. So ein Bombodrom senke den touristischen Wert der Gegend. Gerade die zurückgezogene Stille sei ihre Besonderheit. Wanderwege, Heide, Bäume, vor allem Kiefern. Dabei … sollten die Bombenabwürfe denn in Kreuzberg oder Barmbek geübt werden? Hier war die toteste Hose und hier lag schon so viel Kampfschrott, dass es auf die paar neuen Tests auch nicht mehr ankam. „Sperrgebiet!“ Die Schilder waren ja nicht zu übersehen. Was das für ein Aufwand wäre, allein die Munitionsreste zu bergen! Also machte man weiter.
Übermäßig beliebt war der Platz bei den Soldaten nicht. Aber auch das war nicht sonderlich schlimm. Hier hatte kaum einer seinen festen Standort. Gerade einmal genügend Leute, um eben abzusichern, dass keine Lebensmüden sich im Revier herumtrieben. Nur bei Übungen war was los.
Als die beiden Gefreiten Käsich und Maurer dem Ende der Nachtwache entgegensahen, war keine Übung. Normalerweise hatte der Dienst hier einen eigenen Vorzug: So viele Vorschriften es auch geben mochte, hier wurde kaum eine ernst genommen. Warum auch? Wer hätte sie kontrollieren sollen? Dafür eignete sich die Zeit zwischen tiefer Dunkelheit und Morgendämmerung zu dummen Späßen fast so gut wie zu echten Männergesprächen.

… „Du spinnst!“, knurrte gerade der eine.
Das glaub ich einfach nicht. Und wenn sie zehnmal eine solche Wette verloren hätten. Glaubst du im Ernst, du kannst mir das weiß machen? Dass Kati vor denen gestrippt hat? Nicht Kati. Und hier schon gar nicht.“
Ronny“, erwiderte der andere erregt. „wenn ich es dir doch sage! Max hat das alles ganz genau beschrieben: Fünf Schnecken aus Bünnewitz, eben auch Kati dabei, in einem Opel Astra. Immer eine nach der anderen raus. Alle in Jeansröcken. Die als Erstes runter. Dann die T-Shirts, die Schuhe, die Zwillingsmützen … alles auf einen Haufen. Max sind fast die Augen ausgefallen. Zum Schluss haben sie ihre Strings unter die Jungs geworfen. Max hat Katis erwischt. Ein Duft … Ein Duft sag ich dir …“
Ach, halt´s Maul! Wer weiß, wo er den her hatte.“
Trotzdem starrte Ron auf die leere Straße in Richtung Siedlung, als würde im nächsten Moment ein Oldtimer mit Mädchen aus dem Dämmerlicht auftauchen.
Kati, nee. Kannst erzählen, was de willst. Ich glaub das nicht. Max macht nur auf dicke Hose.“
Der Gefreite Käsich hatte sich eine Zigarette angezündet und bot Ron Feuer an. Ron sog gierig Rauch ein. Inzwischen hatten die beiden ihre Position getauscht. Ron blickte nun auf das zum Abwurf-platz gehörende Waldgebiet. Eigentlich waren die Kiefern nur schemenhaft zu erkennen.
In Rons Gesicht vollzog sich dabei eine Wandlung. Das Entspannte wich aus seinen Zügen. Konzentriert versuchte er etwas zu erkennen. Was stimmte da nur nicht? Irgendetwas an dem Bild war ungewöhnlich. Wenn es nicht so peinlich gewesen wäre, hätte er Käsich angestoßen und … damit eben eingestanden, dass in ihm gerade eine unbestimmte Unruhe zu Angst wurde. Was war das nur?
Ron drehte sich weg. Krampfhaft versuchte er, sich das Bild der verführerischen Mädchen vorzustellen. Kati, ja, die hatte er stark gefunden.
Ruckartig drehte er sich zurück. Da war es wieder. Nein, anders. Rons Finger verkrampften unbewusst um die MPi. Seinem Partner fiel das nun doch auf. „Eh, Ronny, was ist denn? Spinnst du? Siehst du Gespenster?“
So kommt mir das vor. Ja. Aber sieh doch selbst! Guck dir die Bäume an! Fällt dir nichts auf?“
Auch Käsich musterte nun die sich immer deutlicher abzeichnenden Silhouetten. „Meinst du ...“
Ich bin doch nicht blöd! Ich hätte gewettet, die Bäume standen vorhin anders.“
Auch Käsich hielt nun seine Waffe fester.
Mensch, Käse, warum kriegen wir nie die geilen Wetten ab?“
Ronny, du meinst …?“
Was denkst denn du? Ich hab zwar noch kein Schwein gesehen, aber wenn da nicht der Spieß dahintersteckt, fress ich mein Koppel, gebraten und mit Pfeffer. Sieh nicht hin!“
Käsich war nicht recht überzeugt. Der Witz, sich mit einer als Bäume verkleideten Kompanie der Nachtwache zu nähern, war Oberfeldwebel Stöttritz ja als Idee zuzutrauen. Aber wie hätte er das umsetzen sollen? Und gefährlich war es auch noch.

Die beiden Wachsoldaten blickten scheinbar gebannt weg in Richtung Siedlungsstraße. ... 

Mittwoch, 27. November 2013

SF-Story 7 in "Der lebende See": Zum letzten Mal FKK (Anfang)


Er lächelte. Alles war doch noch wie in den Jahren zuvor – was hatte er denn erwartet? „Wasserschutzgebiet“. Dasselbe rechteckige Hinweisschild wie eh und je und daneben das dreieckige mit der Eule „Landschaftsschutzgebiet“. Nichts deutete darauf hin, dass hier inzwischen die Außenstation eines biologischen Forschungsinstituts eröffnet haben sollte. Im lokalen Werbeblättchen war dazu ein kleiner Artikel erschienen. Es wurde vor dem wilden Baden im Testsee gewarnt. Man erprobe neuartige Methoden der Sauberhaltung des Wasserbiotops. Biologische. Solche, bei denen alle Stoffe, die komplizierter als H2O waren, radikal und schnell abgebaut würden. Klar. Zu Beginn jeder Saison wurden Storys verbreitet, die den Einsatz von Ordnungskräften gegen die Wildbader von vornherein unnötig machen sollten. Natürlich vergeblich.

Hinter Reinhard ruhte die Reihe der parkenden Autos am Straßenrand. Eindeutig zu viele, als dass sie alle den Anwohnern gehören konnten. Schnell rüber über die Marienstraße. Nun ging es nur noch den schmalen Pfad weiter. Wenn Reinhard jetzt eine Familie im Gänsemarsch oder Radfahrer entgegengekommen wären, hätte er auf den Wiesenrand ausweichen müssen. Es kam aber niemand. Dafür stieß er auf den Hauptweg und der tauchte in ein strauch- und baumkronenüberschattetes Wegstück ein. Man musste schon wissen, wohin man wollte. Er wusste es. Nun kam die nächste Gabelung. Rechts die Strandecke für die Ghetto-Nackten, links der freie Strandabschnitt, an dem sich Nackte und Textilierte relativ harmonisch mischten. Vielleicht die Bekleideten eher weiter hinten, zur Insel hin.
Reinhard wählte den linken Pfad. Das hatte einen Nachteil: Er ging direkt auf den Müllpunkt zu.
Der Müllpunkt war ein typisches Produkt deutscher Bürokratie. Natürlich durfte es an einem See im Naturschutzgebiet keine Badestelle geben. Wo keine war, konnte es aber auch keine sanitären Einrichtungen, Müllsammelplätze und ähnliche dazu gehörende Dinge geben. Andererseits gab es diese Badestelle seit Jahrzehnten. Richtiger: Es wurde rund um den gesamten See ge-lagert, um zu baden, nur an dieser Stelle eben geballt. Also hatte irgendwann einmal jemand am Beginn dieses Strandes, der kein Badestrand sein durfte, eine Stange eingepflanzt und an dieser Stange einen großen blauen Plastiksack befestigt. So hätte „man“ dort seinen Müll hineinstopfen können.
Der Sack wurde jeweils Anfang des Jahres ausgetauscht. Reinhard kannte den Platz um den Müllsack nur in immer gleichem Zustand: Etwa im Umkreis von zwei Metern lagen Joghurtbecher und Reste vergangener Zeiten so sorgsam verstreut, als hätten Wildschweine die Hoffnung auf Fressbares zu spät aufgegeben. Vielleicht sollte dieser Anblick die eintreffenden Badelustigen von ihrem Vorhaben abhalten. Schon lange gingen die aber mit galantem Wegseh-Blick daran vorüber. Natürlich auch Reinhard. Diesmal aber hatte der blaue Sack einen Bruder bekommen, und jemand hatte sehr sorgfältig allen herumliegenden Müll beseitigt. Jedenfalls war kein einziges Teil zu sehen, das nicht natürlich gewachsen wäre. Badende waren allerdings so viele am Rand des Sees verstreut wie in den Jahren zuvor.

Reinhard fand es gut. Endlich kümmerte man sich um das Wohlbefinden der Badegäste. Er entledigte sich seiner Kleidung. Achtlos platzierte er sie neben der ausgebreiteten Decke und den Schuhen. Noch ein Kontrollblick: Es waren keine Hirsche in unmittelbarer Nähe. Nachdem er nicht mehr mit Frau und Tochter aufwarten konnte, war es ihm eine echte Peinlichkeit, für einen Hirsch gehalten zu werden. Aber sollte er deshalb etwa mit der Tradition des Nacktschwimmens brechen? Geballt traten die Hirsche nur auf der unmittelbar gegenüberliegenden Seite des Sees auf. Meist lungerten ganze Gruppen tief gebräunter nackter Männer miteinander plaudernd am Ufer herum, um ein paar auffällig unauffällige Blicke auf sich ausziehende junge Mädchen werfen zu können. Auf Reinhards Seite gab es auch diesen Badetyp „männlich, alleinstehend, ab 40 Jahre“. Aber hier achtete wenigstens jeder auf ausreichenden Abstand zum Nächsten. Alles war wie seit Jahren. Nur dass noch mehr Männer in Boxershorts oder anderweitig ihre Mannespracht verbergend herumliefen. Reinhard holte das Taschenbuch heraus, das ihm seinen Mix aus Bücherlesen am Sonnengrill und Nachbarschaftsstudien erlaubte. Irgendwann dann war seine Haut vorn, hinten, rechts und links etwa gleich heiß. Zeit, sich abzukühlen.

Donnerstag, 21. November 2013

SF-Story 5 in "Der lebende See": Der lebende See (Anfang der Titelgeschichte)

Erinnerung? Nein. Eine Katastrophe? Ja. Blitze ... Bilder ohne Davor und Danach. Fürs Logbuch nicht verwendbar. Zu viele Lücken. Ich kann sie nicht füllen.
Sollten irgendwann Menschen nach Spuren unseres Untergangs auf diesem Planeten suchen, dann finden sie hoffentlich die Trümmer des Raumschiffs. Wenn sie die untersuchen, werden sie hoffentlich rekonstruieren können, was passiert ist. Zum technischen Versagen hätte ich sowieso fast nichts schreiben können … selbst wenn ich das Logbuch noch fände. Wahrscheinlich traf mich bereits beim Eintritt in die Atmosphäre ein Stoß, der mir das Bewusstsein nahm. Vielleicht hat mir genau das das Leben gerettet. Jedenfalls weiß ich nicht, was die anderen unternommen haben, bin aber sicher, dass sie nicht mehr am Leben sind. Mindestens einer von ihnen hat mich offenbar gerettet. Bei den ersten Bildern in meiner Erinnerung renne ich wie ein Wahnsinniger. Mein Raumanzug steht in Flammen und die Hitze dringt durch und im Laufen versuche ich, ihn auszuziehen, das Feuer abzustreifen. Wie ich auf die Idee kam, hinter mir gäbe es gleich eine Explosion und ich würde nur überleben, wenn ich dann weit genug weg wäre, weiß ich nicht. Auf keinem dieser Erinnerungs-bilder trägt oder stützt mich jemand, aber allein kann ich eigentlich nicht aus dem Raumschiff herausgekommen sein. Ich habe ja gerade erst entdeckt, dass das Raumschiff nicht im Orbit geblieben, also keine Landekapsel eingesetzt worden ist. Alle heimlichen Hoff-nungen auf schnelle Rettung vom Schiff im Orbit waren also von Anfang an unbegründet. Ich bin doch nur ein Mensch mit Hoffnung bis zum Schluss, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass man noch nach uns sucht und wenigstens andere Erkunder so rechtzeitig auf diesen Planeten stoßen, dass diese Aufzeichnungen noch gelesen werden können. Ich weiß ja nicht einmal, ob meine Sprache wirklich aufgezeichnet wird, weil die Wiedergabe nicht funktioniert. Der kleine Monitor zeigt Kurven, als sei alles in Ordnung. Sonst ist fast alles zertrümmert. Die Wunderwerke menschlicher Technik sind Schrott, vor allem Elektronikschrott. Vielleicht finden mich gleich die Schla. Und vielleicht vernichten sie dann alle meine Spuren, weil sie die künftige Harmonie ihrer Gemeinschaft stören könnten. Das wär's dann gewesen.
Dabei …
Wäre es nicht so unwahrscheinlich … Also ich bin über eine Wiese gerannt. Hinter mir eine Explosion. Wahnsinnige Schmerzen, als ob ich bis auf die Knochen glühen würde. Im ununterbrochenen Rennen, Stolpern, Hinfallen, wieder Aufstehen, Rennen muss ich mir den Schutzanzug heruntergerissen haben und die Unterkleidung gleich mit. Es fühlte sich an, als schälte ich mir die eigene Haut ab. Vielleicht bin ich auch danach noch weitergelaufen. Aber vor schreiendem Schmerz verlor ich wieder das Bewusstsein.
Dann war da die Vorstellung, ich sei ein Fisch mit glühenden Schuppen, versunken in Schmerz. Riesige Facettenaugen, die mich anstarrten, mich nach etwas zu fragen schienen, wovor mich die immer wieder schnell einsetzende Bewusstlosigkeit schützte.
Irgendwann hatte ich endlich das Gefühl, ich wachte aus diesen Albträumen auf. Ich merkte, ich lag weich und hatte wirklich geschlafen und nun war es Zeit, richtig aufzuwachen.
Angst. Nur nicht die Augen öffnen. Warum nur war ich so sicher, ich wäre erblindet? Diese Blitze, die Hitze, das war so furchtbar echt. Und etwas stimmte mit meiner Haut nicht. Sie juckte etwas und … sie musste verbrannt sein! Noch immer mit fest geschlossenen Augen begann ich Finger zu bewegen, die Füße, die Arme, die Knie anzuwinkeln. Hatte ich vielleicht alles nur geträumt? Keine der Bewegungen bereitete mir Schmerzen. Es war nur komisch an der Haut. Als wäre ich in ein Nachthemd aus Seilen eingewickelt.
In diesem Moment drangen Lichtstrahlen durch die geschlossenen Lider. Ganz kurz nur. Danach hatte ich den Eindruck, es wäre jemand neben mir. Genauer, es schienen zwei Jemande zu sein. Warum schwiegen sie mich an? Ich würde den Augenblick nicht endlos dehnen können und die Augen öffnen müssen.
Tat es und schloss sie sofort wieder. Mich begafften keine Menschen. Das waren … Menschenähnliche? Sagt man so? Ich sah zwei Köpfe vor mir, also eigentlich die Gesichter. Wenn ich mich nicht täuschte, dann standen zwei Wesen neben mir im Raum, beide insgesamt deutlich kleiner und zierlicher als Menschen. Ihre Köpfe aber …
Ich blinzelte, hoffentlich unauffällig. Das Gesicht unmittelbar vor mir konnte sogar das eines Mädchens sein. Zumindest hatten die Züge etwas Weiches. Es war im Prinzip alles da, was auch in einem Menschengesicht zu finden gewesen wäre. Nur war alles etwas zu groß geraten und wurde beherrscht von eben jenen Facettenaugen, die mir im Albtraum begegnet waren. Dagegen wären Froschaugen als schön durchgegangen. Wie kam ich eigentlich auf Facetten? Sicher war nur, dass sie nichts Menschlich-Schönes an sich hatten.
Dann kam der nächste Schock. Jenes Wesen, das ich für ein Mädchen hielt, gab Geräusche von sich. Es klang wie ein an- und abschwellendes Summen. Ich glaubte, lauter Ens und Ems aneinandergefügt zu hören. Das weiter hinten sitzende Wesen summte dem Mädchen etwas zu, woraufhin es noch betonter modulierte. Und endlich begriff ich: Das Mädchen hatte gesprochen und sprach schon wieder! In einer Sprache, die ich verstand! Nur mit einem extrem fremden Klang. „Ich bin Wroohn. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir Schla meinen es gut mit dir. Der See gab dir dein Leben wieder.“
Als sie noch einmal mit diesen Sätzen von vorn begann, murmelte ich: „Ich verstehe dich. Ich bin Jonathan, John, ein Mensch. Danke!“ Aber ich begriff nicht, wieso ich einfach so eine fremde Sprache beherrschte. Dass es nicht meine auf der Erde gelernte, sondern die hiesige war, war mir bewusst. Es war beängstigend. Woher kannte ich die?
So wurde ich aufgenommen in die Gemeinde der Schla, wurde einer der ihren.

Das Schwerste war die Gewöhnung an ihre allgegenwärtige Hässlichkeit. ...

Mittwoch, 6. November 2013

SF-Story 1 in "Der lebende See": Abea (Anfang)

Möchte ich in fremden Gehirnen lesen können, vor allem jetzt in seinem – wo ich sowieso schon zu viel weiß? Für meinen Beruf wäre es von Vorteil. In diesem Fall aber … Nein, wahrscheinlich möchte ich es nicht.
Ich leite den Mann zu dem Platz, an den er sich in den Sitzungen gewöhnt hat. Ich ahne, was wirklich war, aber ich sträube mich gegen die Wahrheit. Wie er.
Er hatte sich freiwillig gemeldet. Sondereinsatz, Sonderprämie. Sie übertrugen die Erfahrungen ihrer überlegenen Demokratie auf das Land dieses Diktators. Klar wurde auf sie geschossen, mussten sie für Ordnung sorgen, Waffen einsetzen, mit Splittern und Strahlen alle potentiellen Mörder und Terroristen für immer handlungsunfähig machen. Diesmal war er dran, im Schutzanzug die Haufen zusammenzukarren, damit sie umweltverträglich entsorgt würden.
Da entdeckte er sie.
Es war eigentlich unmöglich. Die eingesetzten Befriedungsmittel durften kein Leben zurücklassen, menschliches schon gar nicht. Doch ihre Augen sahen ihn an. Sie waren groß und wunderschön. Dunkelbraun, fast schwarz wie die feuchte, fruchtbare Krume seiner Heimat, frisch durchgegrubbert nach der Schneeschmelze im März. Sie schienen zu sagen, ich habe dich lieb, du Gespenst. Ich will dich retten. Hatte er das gelesen? Von diesem Gespenst von Canterville? War er das Gespenst, das gerettet werden musste? Wieso sollte er gerettet ...
Er achtete nicht auf die anderen ringsum. Sah nur dieses Mädchen. Zog es aus dem Berg von Schutt und Körpern hervor. Es war verschwitzt. Eine kleine Schramme an der linken Schläfe wurde vom sandsatten schwarzen Kraushaar halb verdeckt, ansonsten aber schien es unverletzt. Das Kleid oder wie man dieses Kleidungsstück nennen mochte, Burnus oder so, war gleichfalls an der linken Schulter zerrissen, so weit, dass es eine bubenhafte Brustwarze hervorschauen ließ. Das Mädchen hatte nicht die Kraft, die Blöße zu bedecken. Leben war nur noch in seinen Augen.
Für einen Moment wollte er das Kind zum Rest stoßen. So verstrahlt, wie es war, würde es sowieso bald sterben. Ein Gnadenschuss würde es vor Qualen bewahren. Aber da war immer noch dieser Blick, diese Augen.
Was für ein Unsinn! Was dachte er ausgerechnet jetzt an Samantha, die so gern ein Kind gehabt hätte? Ein unbegreiflicher Reflex bewegte seinen Mund: „Wie heißt du, Mädchen?“
Er dachte sofort: Sam, bist du blöd! Sie kann dich nicht verstehen. Du müsstest durch deinen Anzug viel lauter sprechen. Und selbst dann – woher sollte dieses Mädchen deine Sprache kennen?
Da hörte er Laute aus ihrem Mund: „Heißt du Mädchen Abea.“
Der Sergeant Samuel Mc Fadden packte das Kind an den Armen, schleppte es von dem Körperentsorgungshaufen fort zu seiner Batterie, und er drehte sich auch nicht um, als hinter ihm die Flammen mit einem dumpfen Puffen anfingen, den anderen Körpern Gnade zu erweisen.

***

Sie war über eine Schwelle getreten. Hinter ihr war nichts, jedenfalls nichts, woran sie sich hätte erinnern können. In diesem Moment wusste sie nicht mehr, was sie jemals erlebt hatte, vor allem nicht, was gerade passiert war. Nur, dass sie sich nicht bewegen konnte. Um sie herum stank es fürchterlich und niemand war da, bei dem sie das hätte beklagen können.
Plötzlich stand ES vor ihr. ES war sehr groß, glänzte weiß, hatte keine Haare, keinen richtigen Mund, aber riesige ovale Augen. Beine auch, aber die bemerkte sie erst später. Sie bestaunte die fremden Riesenaugen.
Du wirst mir nichts tun. Ich habe dich lieb. Ich habe überhaupt keine Angst vor dir. Ich habe dich lieb.
Abea wunderte sich. Deutlich verstand sie, dass ES an eine Samantha dachte. Die hatte traurige blaue Augen und locker auf die Schulter fallende Haare von der Farbe der Wüste bei Windstille. ES dachte Gnadenschuss und Abea hätte zu gern gewusst, was das bedeutete. ES wollte wissen, wer sie war. Und Abea nahm die Worte von IHM und ergänzte ihren Namen. Sie zögerte, wollte zurück-fragen, aber ES würde sie ja nicht verstehen. Da riss ES sie nach oben, und Abea sah vor sich einen schwarzen Himmel.


***
...

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Sonntag, 31. März 2013

Leseprobe zu Slov ant Gali / Ricardo Riedlinger "Der lebende See"


Ich hätte gern weiter geträumt, aber Tanja stößt mir ihren Ellenbogen zwischen die Rippen. Etwas stimmt nicht. Irgendetwas ist anders als sonst. Nur was? Grübeln ist sinnlos. Ich schlafe sowieso nicht wieder ein. Obwohl … Ich blinzele. Tanja hat sich halb aufgedeckt. Ich decke sie zu und schleiche ins Bad, komme aber nicht dazu, mir in Ruhe die Zähne zu putzen. Tanja steht plötzlich in der Tür.
Sie hält sich die linke Hand über die Augen und quäkt “Warum läuft denn gar keine Musik?” Das also ist es – das ewige leise Berieseln mit harmonischen Klängen hat mir gefehlt. Ich laufe ins Wohnzimmer. Gespenstische Stille, der Monitor dunkel, kein grünes Signallicht am Tower. Ich drücke halb verärgert, halb verängstigt den großen schwarzen Knopf. Auf dem Bildschirm erscheinen drei überdimensionale Ausrufezeichen. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich sie anstarre, lösen sie sich pixelweise auf. An ihrer Stelle macht sich ein Schriftzug auf dem ganzen Monitor breit: “Sie haben die vorausgegangenen automatischen Warnungen nicht ernst genommen.” Tanja ist hinter mich getreten. “Is was, Mama?” — “Nein, nein.” Wie, um mich Lügen zu strafen, kommt die nächste Meldung. “Sie haben seit sieben Tagen Ihr genehmigtes Limit überschritten. Gleichen Sie innerhalb der nächsten 72 Stunden Ihr Konto aus! Sollten Sie diese Chance bis zum 28. November, 0.00 Uhr, missachten, wird auch Ihr restlicher Nutzercode gelöscht. Alle Schaltfunktionen verbleiben dann in der jeweiligen Ist-Stellung. Die Entsorgung Ihrer Überreste vereinbaren Sie bitte mit einer der zuständigen Firmen. Wählen Sie nach Betätigung des OK-Buttons eine aus!”
Ich setze mich zitternd auf den Computersessel. Ohne zu überlegen drücke ich OK. Sofort scrollt eine Liste über den Bildschirm. Ich versuche, den Computer abzuschalten, aber anstatt mir zu gehorchen setzt er sein Fremdprogramm bei den Ausrufezeichen fort. Das ist also eine Endlosschleife. Genauer, eine Schleife bis zum 27. November, 24.00 Uhr. Dann kommt die Dunkelheit, eine verschlossene Wohnungstür … oder eine nicht mehr verschließbare, sollte ich sie zuvor offengelassen haben. Aber was hätte ich mit dem Offenlassen meiner Wohnungstür gewonnen, ohne elektronischen Code fürs Haus? Alle Zähler, jeder Strom, einfach alles wäre für mich unerreichbar. Ich wäre tot, bevor ich tot wäre. Und Tanja auch.
Beim zweiten Durchlauf der Schrift beginne ich zu frieren. Ich bin nackt, so unendlich nackt. Mit starrem Blick renne ich an Tanja vorbei ins Bad und drehe den Hahn für das heiße Duschwasser bis zum Anschlag. Die auf mich einprasselnden Schauer röten mir augenblicklich die Haut. Dampf lässt den Spiegel erblinden. Die Tür geht auf. Tanja wirft ihr Nachthemd neben die Toilette. Ihr Lachen klingt fern. Bevor ich mich ihr richtig zugewendet habe, höre ich sie schreien. “Au, Mama, das kocht ja!” Ich komme wieder zu mir, regele die Wassertemperatur herunter und beginne, Tanja zu bespritzen. Die lässt am Waschbecken kaltes Wasser laufen, formt ihre Hände zu einer Schüssel und zielt auf meinen Bauch. “Treffer!” Ich quieke und bald sind wir außer Atem …
Wieder am Computer, beginne ich wie wild zu diktieren. Zum Mittagessen hole ich Tanjas Lieblingspizza aus dem Kühlschrank, und als sie nachmittags auf dem Hof spielen will, sage ich nur, “Ich ruf dich dann.” Da habe ich schon etwa 200 Mails versendet. Bettelbriefe, Bewerbungen mit der Bitte um Vorschuss, Anfragen nach einem Gelegenheitsjob.
zu den Outsidern? Mit Tanja? Inzwischen ist eine Anfrage nach einem Bild von ihr eingegangen. Wenn noch keine Haare zwischen den Beinen gewachsen seien, hätte man Verwendung für sie … Woher hat dieser Ekelbock nur so schnell von meiner Tochter erfahren? Oder hängen sich die Programme der Kinderhändler einfach automatisch an Bewerbungsabsagen? Traurig werfe ich Tanjas Lieblingskleid in den Schmutzwäschebehälter.
Der 26. November vergeht ohne Auffälligkeiten. Ich kann mich einfach nicht entschließen. Was ich über die Outsider gehört habe, schreckt mich ab. Ein verwildertes Dasein mit Tanja? Nein.
Ich checke alle eingegangenen Rückmeldungen: 180 Absagen. Soll ich die unbeantworteten Mails zählen? Vielleicht kommt noch was Positives? Vier Bieter fragen nach Tanja. Alle wollen das Mädchen sofort benutzen. Bleibt denn wirklich nur die Möglichkeit, unter verschiedenen Formen des Entsorgens zu wählen?! Ich muss handeln. Sonst werden wir in der abgedichteten Wohnung ersticken oder verhungern oder verdursten. Dann sollen sie uns wenigstens professionell entsorgen. Ich klicke den Katalog an.
Wir garantieren einen Abschied von der Vulgärexistenz für Mutter und Tochter in würdiger Gemeinschaft – schmerzfrei und glückstraumerfüllt.” So also klingt für uns positiv. Eine steuerfinanzierte Leistung. Kaum berührt der Cursor die Pforte des abgebildeten Gebäudes, verkünden zwei seriös gekleidete Herren, dass sie gern für die gewünschte Operation zur Verfügung ständen.
Der Vertragstext blinkt auf. Bei einem Paragraphen erwache ich kurz. Was? “... Ich stelle alle meine funktionsfähigen Organe anderen Vulgärexistenzen zur Nachnutzung zur Verfügung …”? Lässt sich das ausschalten? Natürlich. Wir leben ja in einer freien Gesellschaft. Da kann jeder über seinen Körper verfügen. Nur wer auf “Weiter” klickt, bestätigt sein Einverständnis. Ich nicht. Ihr bekommt keine Ersatzteile aus meinem Körper … und aus Tanjas erst recht nicht. Mit dem Gefühl, es der Welt so richtig gezeigt zu haben, beende ich das Vertragsstudium und signiere mit Karte. 30 Stunden noch.
Ich erzähle Tanja eine Gute-Nacht-Geschichte. Dann streiche ich ihr über die Stirn und frage im Tonfall des vorangegangenen Märchens: “Wenn plötzlich zwei Männer kämen und wollten uns beide an einen Ort holen, an dem wir noch nie gewesen sind und von wo wir nie mehr zurückkämen, möchtest du dann mit?” Tanja murmelt: “Ist es da schön?” Und ich antworte: “Schöner als hier.” Wie glücklich Tanja da “Ja!” sagt ...
Als ich unter die Decke krieche, hat sie sich wie ein Embryo zusammengerollt. Kaum spürt sie meine Nähe, versucht sie mich wie einen Teddy zu umfassen. Obwohl ich sie ganz gleichmäßig atmen höre, kann ich nicht einschlafen.
27. November, 7.30 Uhr. Ich habe geträumt, in meinen Schützengraben dringt eine weiße Wolke ein. Winzige Sternchen krabbeln in meine Nase. Ich möchte allzu gern niesen, aber es geht einfach nicht. Ich hole tief Luft … und endlich pruste ich alle diese Gassternchen wieder aus, öffne die Augen und … sehe in Tanjas verschmitztes Gesicht. Sie lacht und dann krümmt sie sich und sieht hoch und krümmt sich schon wieder – wegen meiner Grimasse. Endlich entdecke ich das Haar in ihren Fingern, das sie gerade aus meinem Nasenloch gezogen hat, und rufe “Na warte!” Wir balgen herum …unser letzter Tag.
Tanja ist beim Frühstück sehr still. Ob wohl mit mir etwas nicht in Ordnung ist? Tanja fragt nicht, guckt mich aber mehrmals prüfend an. Nur was sollte ich sagen? Die Wahrheit? ...

Freitag, 29. März 2013

Im Bann der Bienen (Leseprobe)


Die neue Bienenart war ein reines Kunstprodukt. Es wäre Unsinn gewesen, sie sofort auf die freie Natur loszulassen. Wer sagte uns denn, dass sie wirklich ihr manipuliertes Genom kopierte und der folgenden Generation weitergab? Wer sagte uns, ob wir nicht nebenbei ihr Orientierungssystem gestört hatten, wie das einige Forscher von den verschwundenen Bienen behaupteten? Wir hatten Geduld. Die große Forschung würde an jenen Geschöpfe zu bewältigen sein, die wieder „natürlich“ entstehen würden, also an jenen Bienen, für deren „Geburt“ „unsere“ Königin zuständig war und gefüttert wurde. Zumindest dieser Instinkt war – genau wie der arbeitsteilige Aufbau des Staates - erhalten geblieben. Eigentlich war der Erfolg am allerwenigsten meine Leistung. Doch … Vielleicht verstand ich nur zu wenig von Frauen, und war deshalb verunsichert, dass mich Lissy zu vergöttern begann. Aber mir tat es gut.
Dann dieses herrliche Gefühl, für neues Leben verantwortlich zu sein. Auch neue Bienen sind ja neues Leben. Als jenes Ereignis herangerückt war, fühlte ich mich wie der Oberarzt einer Frauenklinik. Ich gebe zu, insgeheim freute ich mich sogar ein wenig, dass Gregs weiterlaufende Reihen bis zu diesem Tag keine nutzbare neue Kombi ergeben hatten. Die Angst, er könnte mich doch noch bei Lissy ausstechen, hatte ich nicht verloren. Aber die Strafe dafür traf mich trotzdem ganz unvermittelt:
Wir hatten alles für das Experiment „erster Ausflug“ vorbereitet. Die FN 3514 b-Bienen (also die der zweiten Generation) wurden in eine vollkommene Kunstnatur entlassen. Ein Treibhaus mit einem Gemisch aus Kunst- und Sonnenlicht und mit blühenden Pflanzen aller Art. Wir hatten so viele Kameras installiert, dass kein einziges Blatt unbeobachtet hätte wackeln können. Es gab Blüten nebeneinander, die die Natur nie nebeneinander zugelassen hätte, und in verschiedenen Farben. Wir waren sicher, nichts vergessen zu haben. Und dann ...
Als wir nachher wie die Verrückten die vielen Filme durchsahen, verfestigte sich von Mal zu Mal unser anfänglicher Eindruck: Unsere tollen Bienen waren losgeflogen, hatten versucht sich zu orientieren – ob ihnen das gelungen war, konnten wir nicht sagen – und etwas gesucht. Jeder Film bestätigte, dass sie nicht fanden, was sie gesucht hatten. Jeder Film zeigte aber auch, dass sie ihre Suche nicht auf Blüten konzentrierten, egal welche. Unsere Wesen sahen eindeutig aus wie Bienen, aber Blütenstempel interessierten sie nicht, schillernde Farben lockten sie nicht. Manchmal flogen sie merkwürdige Kreise. Immer dann hatte ich das Gefühl, mein Adrenalinspiegel stiege an. Auch Lissy, Paul und Esther fühlten sich beschwingt. Wir schoben das auf die Erwartung eines Erfolgs – wie immer der aussehen sollte.
Inzwischen beobachteten wir noch etwas Anderes: Unsere b-Bienen nahmen gern Honig zu sich. Doch dann ... Bei der Verdauung des Honigs entstanden kleine Portionen klassischen Alkohols. Die Tiere wurden besoffen und führten sich auch so auf. „Macht nur so weiter! Unser Volk wird bestimmt bald delirierend aussterben“, unkte Greg. Wir lachten noch. Wir ahnten ja nicht, dass es vielleicht das sogar das Beste gewesen wäre, hätte sich Gregs Vision bewahrheitet.

Greg stattete uns häufig Besuche ab. Wäre er doch nur still geblieben dabei! Wäre er doch bei seinen Programmierungen geblieben! War er aber nicht. Er schäumte nur so über von unausgegorenen Ideen. Mit dem Blick des unbeteiligten Außenstehenden beobachtete er zum Beispiel erst eine Weile die aktuelle Situation unserer Schöpfungen, um dann einen Witz abzulassen: „Habt ihr gesehen, dass die ihren Alk einfach auf die Blätter pinkeln? Ist doch Verschwendung. Vielleicht ergibt das ganz neue Nutzungsmöglichkeiten? Ich hol mal ein paar Versuchsmäuse. Sollen die prüfen, ob das ein gutes Gesöff ist.“ Und schon zog er los. Wir hörten ihn noch ulken: „MET direkt von den Bienen ... Welch Fortschritt!“
Unsere Situation schien ihn köstlich zu amüsieren.
Ich gebe zu, dass mir das Ruder aus der Hand glitt. Ich war selbst viel zu neugierig, um etwas Sachliches zu tun. So unternahm ich nichts, als Greg mit einem Behälter voller Versuchsmäuse zurück war. So schnell, wie er dann den Deckel der Kiste und die Tür des Treibhauses geöffnet, den Kasten hineingestellt und die Tür wieder geschlossen hatte, konnte ich kaum reagieren und ihm wenigstens zurufen, er solle aufpassen. Nicht dass uns einige Bienen entwichen. Da war es schon zu spät ...
Nein, wahrscheinlich waren wirklich alle Bienen im Versuchshaus geblieben. Aber das war dann auch das Letzte, woran wir während der nächsten Minuten dachten.
Die Mäuse begannen neugierig ihre neue Umwelt zu untersuchen. Einige schienen als Erstes den ungewohnten Geruch aufzunehmen. Mäuse sind echt putzig, wenn sie ihre Nasen in die Höhe recken. Es fiel zwar absolut nicht in unseren Aufgabenbereich, aber wir hätten aus reinem Vergnügen die Mäusesauforgie beobachtet.
Doch dazu kam es nicht. Die Bienen waren nämlich wie verwandelt. Als hätten sie endlich gefunden, was sie so lange vergeblich gesucht hatten, orientierten sie sich um. Als Formation von Sturzkampffliegern oder so, als ob am Mäusebehälter ein Vakuum entstanden wäre, stürzten sich alle auf die Nager. Wir starrten wie benommen auf die Szenerie. Innerhalb von drei Minuten lagen dort, wo zuvor die kleinen Säuger gelaufen waren, nur noch ein paar Knöchelchen. Eine Weile standen wir reglos da.

Wahrscheinlich hallte auch in den Ohren der anderen das Entsetzensfiepen der Mäuse nach Diese hilflose Angst, der Schmerz und dann das Verstummen.
Als wir langsam wieder zu uns kamen, fiel uns als Erstes auf, dass sich unsere b-Bienen nun wie „normale“ Bienen aufführten – zumindest ihrer Königin gegenüber. Bisher hatten wir nicht eine Biene beim Nektar sammeln „erwischt“. Das änderte sich nun. Schon wenige Minuten nach dem Überfall auf die Mäuse waren fast alle Bienen dabei, sich an Blüten zu schaffen zu machen und zu ihrem Korb zu fliegen. Hätten nicht die Knochen am Boden gelegen, wir hätten eine perfekte Idylle vor uns gesehen ...

Montag, 31. August 2009

Abea


Die folgende Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten “Mein außerirdischer Liebhaber” bei der dorante Edition.:

Abea (1)


Möchte ich in fremden Gehirnen lesen können, vor allem jetzt in seinem – wo ich sowieso schon zu viel weiß? Für meinen Beruf wäre es von Vorteil. In diesem Fall aber …. Nein, wahrscheinlich möchte ich es nicht.
Ich leite den Mann zu dem Platz, an den er sich in den Sitzungen gewöhnt hatIch ahne, was wirklich war, aber sträube mich, wie er, gegen die Wahrheit.
Er hatte sich freiwillig gemeldet. Sondereinsatz, Sonderprämie. Sie übertrugen die Erfahrungen ihrer langjährigen überlegenen Demokratie auf das Land dieses Diktators. Klar, wurde auf sie geschossen, mussten sie für Ordnung sorgen, Waffen einsetzen, die mit Splittern und mit Strahlen alle potentiellen Mörder und Terroristen für immer handlungsunfähig machten. Dann entstanden schon einmal Berge von Menschenteilen, die sie nicht liegen lassen konnten. Schließlich waren sie hier, um Ordnung zu bringen. Und er war dran, im Schutzanzug die Terroristen zu einem Haufen zusammenzukarren, damit sie umweltverträglich entsorgt würden.
Da entdeckte er sie.
Es war eigentlich unmöglich. Die eingesetzten Befriedungsmittel durften kein Zucken zurücklassen. Doch ihre Augen sahen ihn an. Sie waren groß und wunderschön. Dunkel wie die feuchte, fruchtbare Krume seiner Heimat, frisch durchgegrubbert nach der Schneeschmelze im März. Sie schienen zu sagen, ich habe dich lieb, du Gespenst. Ich will dich retten. Hatte er das gelesen? Von diesem Gespenst von Canterbury? War er das Gespenst, das gerettet werden musste?
Er achtete nicht auf die anderen ringsum. Sah nur dieses Mädchen. Zog es aus dem Körperberg hervor. Es war verschwitzt. Eine kleine Schramme an der linken Schläfe wurde vom sandigen schwarzen Kraushaar halb verdeckt, ansonsten aber schien es unverletzt. Das Kleid oder wie man dieses Kleidungsstück nennen mochte, Burnus oder so, war gleichfalls an der linken Schulter zerrissen, so weit, dass es eine bubenhafte Brustwarze hervorschauen ließ. Das Mädchen hatte nicht die Kraft, die Blöße zu bedecken. Leben war nur noch in seinen Augen.
Für einen Moment wollte er das Kind zu dem restlichen Haufen stoßen. So verstrahlt, wie es war, würde es sowieso bald sterben. Ein Gnadenschuss würde es vor Qualen bewahren. Aber da war immer noch dieser Blick, diese Augen.
Was für ein Unsinn! Was dachte er ausgerechnet jetzt an Samantha, die so gern ein Kind gehabt hätte? Ein unbegreiflicher Reflex bewegte seinen Mund: „Wie heißt du, Mädchen?“
Er dachte sofort: Sam, bist du blöd! Sie kann dich nicht verstehen. Du müsstest durch deinen Anzug viel lauter sprechen. Und selbst dann – wie sollte dieses Mädchen deine Sprache verstehen?
Da hörte er Laute aus ihrem Mund: „Heißt du Mädchen Abea.“
Der Sergeant Samuel Mc Fadden packte das Kind an den Armen, schleppte es von dem Körperentsorgungshaufen fort zu seiner Batterie, und er drehte sich auch nicht um, als hinter ihm die Flammen mit einem dumpfen Puffen anfingen, den anderen Körpern Gnade zu erweisen.

Sonntag, 30. August 2009

Abea (2)


(Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition:)
...
Sie war über eine Schwelle getreten.
Hinter ihr war nichts, jedenfalls nichts, woran sie sich hätte erinnern können. In diesem Moment wusste sie nicht mehr, was sie jemals erlebt hatte, vor allem nicht, was gerade passiert war. Nur, dass sie sich nicht bewegen konnte. Um sie herum stank es fürchterlich und niemand war da, bei dem sie das hätte beklagen können.
Plötzlich stand ES vor ihr. ES war sehr groß, glänzte weiß, hatte keine Haare, keinen richtigen Mund, aber riesige ovale Augen. Beine auch, aber die bemerkte sie erst später. Sie bestaunte die fremden Riesenaugen.
Du wirst mir nichts tun. Ich habe dich lieb. Ich habe überhaupt keine Angst vor dir. Ich habe dich lieb.
Abea wunderte sich. Deutlich verstand sie, dass ES an eine Samantha dachte. Die hatte traurige blaue Augen und locker auf die Schulter fallende Haare von der Farbe der Wüste bei Windstille. ES dachte Gnadenschuss und Abea hätte zu gern gewusst, was das bedeutete. ES wollte wissen, wer sie war. Und Abea nahm die Worte von IHM und ergänzte ihren Namen.
Abea zögerte. Sie wollte zurückfragen, aber ES würde sie ja nicht verstehen. Da riss ES sie nach oben, und Abea sah vor sich einen schwarzen Himmel.
Ich kann Ihnen das nicht erklären. Glauben Sie mir. Ich würde gern, aber ich kann es mir selbst nicht erklären. Die meisten Zellen ihrer Abea sind radioaktiv aufgeladen. Aber sie strahlen nicht nach außen. Und das Seltsamste: Ich kann bisher keinerlei krankhafte Veränderungen feststellen.“
Bitte, Herr Doktor, reden Sie Klartext! Wie lange hat sie noch zu leben?“
Das kann ich einfach nicht sagen. Der Strahlenbelastung nach wäre sie längst tot, von der Wahrscheinlichkeit her muss die Strahlenkrankheit bald bei ihr ausbrechen. Spätestens dann bleibt Ihnen nichts mehr zu tun, als der Kleinen die Leiden zu mildern.“
Sie finden unsere Idee also verrückt?“
Der alte, bedächtig sprechende Chefarzt der Spezialklinik vermied es, Samantha und Samuel Mc Fadden in die Augen zu sehen.
Bitte fragen Sie mich nicht! Ich an Ihrer Stelle würde mir das alles noch einmal gründlich überlegen.“
In diesem Augenblick ging die Tür auf. Für einen winzigen Moment stand Abea abwartend da, die Klinke in der Hand, die dunklen Augen funkelten Sam an. Dann flog sie ihm entgegen, als hätte sie einen kräftigen Tritt bekommen. Sie landete auf seinem Schoß, und ihre Arme zogen Samanthas Kopf zu sich heran, drückten ihn und krabbelten mit den Fingern durch die blonden Haare, als suchten sie darin wenn schon nicht Läuse so doch wenigstens Wüstensandkörner.
So lange es geht, lebt Abea als unser Kind“, entschied Sam, wobei er abwechselnd zu Abea und dem Arzt blickte.
Und das Kind warf dem Mann in dem Kittel einen trotzigen Blick zu. „So lange es geht, lebt Abea als unser Kind“, wiederholte es störrisch.
Auf der Straße in die Kleinstadt, dort, wo man mehr als fünf Achtel des Himmels über sich sah, schwieg Sam vor sich hin. Seine freie Hand lag in der linken Samanthas.

Samstag, 29. August 2009

Abea (3)


(Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition:)

... Es war schon ein seltsames Gefühl. Zur Schule gehen. Mit Kindern, die hier groß geworden waren, alle Wörter kannten, die fremden Dinge, die sie bezeichnen sollten, ja, die sogar genauso aßen wie ihre Nachbarn.
Sag, ich heiße Abea!“
Das hatte ihr Sam erklärt, den sie jetzt Dad nennen sollte. So tat sie es auch, als sie allein mit der Lehrerin vor der Klasse stand. Trotzdem lachten die meisten. Vielleicht hatte sie die Laute nicht richtig betont.
Mrs. Widerman winkte. Daran erkannte Abea, dass vorn dort war, wo die anderen Kinder hinsahen, wenn sie sich nicht gerade feixend wie jetzt zu ihr umdrehten.
Mrs. Widerman fragte so boshaft, als wäre völlig klar, dass Abea nicht wissen konnte, wie viel zwei plus drei sei. Aber sie dachte dabei fünf, so dass Abea laut „Fünf!“ sagte, und auch, als die Aufgaben schwieriger wurden, dachte die Lehrerin immer an die Lösung, die Abea nur laut nachsagen brauchte.
Viel hatte Abea nicht verstanden, aber weil alle ihre Antworten richtig gewesen waren, galt sie von nun an als Rechenass. Rechnen war auch leichter als die fremde Sprache, von der man so viele Worte mit so vielen Bedeutungen behalten musste, und David, der immer am lautesten dachte, formulierte so viele falsche Sätze.
Abea lernte schnell.
Trotzdem war sie traurig. Mathew hatte immer solche Angst vor dem Unterrichtsschluss. Sie fragte ihn, warum er nicht mit den anderen loslaufe.
Lass mich in Ruhe“, antwortete er abweisend. Aber da kamen schon Hobbes und dessen Gang und schlugen auf den kleinen schwarzen Jungen ein. Überrascht und hilflos stand Abea daneben.
In der nächsten Pause jedoch stellte sie sich vor Hobbes hin.
Warum lässt du Mathew nicht in Ruhe?“
Die anderen aus der Klasse bildeten einen Kreis um sie. Hobbes grinste. Sein Gedanke kam genauso schnell oder langsam wie seine Worte: „Weils einfach Spaß macht. Aber wir können ja auch dich nehmen.“
Fast alle lachten.
Nur Benny stand in der Ecke und dachte, Mädchen schlägt man nicht. Er fürchtete sich, das laut zu sagen. So war Abea am Schluss der letzten Stunde auf ihn zugegangen, hatte ihn an der Hand genommen und war mit ihm schweigend durch die Gasse der verwirrten restlichen Jungen geschritten.
Schwarze Hexe!“, rief Hobbes. Aber Abea hätte nicht sagen können, ob das abschätzig oder zumindest etwas anerkennend gemeint war. ...

Mittwoch, 26. August 2009

Abea (5)


(Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition:)

... Aber die Klasse hatte sich verändert.
Abea war Hobbes lange aus dem Weg gegangen. Das, was sie an Gedanken aus seinem Kopf hörte, quälte sie. Was konnte sie denn dafür, dass sein Vater von dort unten die tödliche Krankheit, ihr Dad dagegen sie mitgebracht hatte?
Dann merkte sie, dass sie immer mehr Mitschüler mieden. Wie eine Fahne zog sie den Titel „Schwarze Hexe“ hinter sich her. In ihrer Gegenwart sprach ihn niemand aus, aber das war vielleicht noch schlimmer: Es aus den zurückgebliebenen Gedanken der anderen lesen zu müssen, wie sie in ihrer Abwesenheit über sie hergezogen waren.
Hobbes war größer, älter und kräftiger als die anderen. Auf dem Heimweg von der Chorstunde, die jetzt auch keine richtige Freude für Abea mehr war, stand er plötzlich mit fünf anderen Jungs vor ihr. „Na, Cleopatra, bist du eigentlich beschnitten? Ihr Araberweiber sollt ja so scharf sein, dass ihr es anders nicht aushalten könnt. Na, ich beschneide dich gern. Wo auch immer.“
Sie hörte die anderen denken, lass den Quatsch, was soll das! Aber keiner sagte etwas. Sie konnte sich losreißen, rannte, rannte, rannte.
Zu Hause redete gerade die Mutter von Samantha auf Abeas Pflegeeltern ein, ohne das Kind in der Tür zu bemerken: „… Wir haben dreißig Rollen bekommen. Wir dachten, am Wochenende tapezieren wir zusammen. Rosa Wölkchen. Sind die nicht niedlich?“
Wortlos verzog sich Abea auf ihr Zimmer.
In der Schule häufen sich in letzter Zeit die Fälle von … Also, wenn es nicht so verrückt klänge, dann würde ich sagen Strahlenkrankheit. Genau genommen betrifft das die ganze Klasse Ihrer Tochter bis auf … na, eben bis auf Ihre Tochter selbst.“
Das kann ja wohl nicht wahr sein.“
Samantha hatte sich erhoben.
Mrs. Widerman war ebenfalls aufgestanden.
Ich glaube es natürlich auch nicht. Aber an mich ist von mehreren Eltern die Bitte herangetragen worden, mit Ihnen zu sprechen. Sie mögen Ihr Kind aus unserer Schule nehmen. Wie gesagt, das …“
Ich versteh schon! Auf Wiedersehen!“
Samantha stürmte wutentbrannt heim. Kurz vor ihrem Haus traf sie ein Stein in der Nierengegend.
...

Dienstag, 25. August 2009

Abea (6 = Schluss)


... Stumm horchte Abea an Samanthas Bauch, dort wo jetzt nichts mehr zu hören war. Sie spürte die Hand der weinenden Mutter auf ihrem Kopf, aber sie hörte auch deren Gedanken.
Wenn du nicht wärst, dann wäre bald mein eigenes Kind da.
Leise war hinter ihnen die Tür aufgegangen. Müde warf Sam seine Tasche in eine Ecke, so dass sich „seine beiden Frauen“ erwartungsvoll zu ihm umdrehen.
Abeas Werte sind jetzt okay. Burkland konnte nicht die geringste Radioaktivität mehr in ihren Zellen feststellen.“
Das Mädchen sprang auf, lief die Treppe hinauf, schloss sich in ihr Zimmer ein, warf sich aufs Bett und prügelte mit der Stirn auf das unschuldige Kopfkissen ein.
Oh, könnte sie doch endlich die fremden Gedanken von sich fern halten. Nein sie war kein Monster! Nicht einmal „Unser Monster“, wie in Mums Gedanken! Nein, das schon gar nicht.
Am nächsten Morgen stiegen nur noch vereinzelt Qualmwölkchen aus dem niedergebrannten Haus der Mc Faddens. Samuel Mc Fadden hielt seine zitternde Frau in den Armen. „Nicht auch noch Abea, nicht auch noch Abea!“
Wieder ist eine Stunde um.
Auf dem Schreibtisch liegt eine verschmierte Notiz. „Von einem etwa zehnjährigen Mädchen, welches ein Armeeangehöriger namens Mc Fadden oder wie auch immer angeblich aus dem Krieg mitgebracht haben will, ist im Stab nichts bekannt.“ Mir ist so egal, ob Sam sich Abea ausgedacht hat, um sich vielleicht für ein Kind zu entschuldigen, das dank seines Einsatzes gestorben ist, er bei mir nur Bestätigung sucht, dass er nicht anders hätte handeln können, oder was auch immer. Ich habe mein Geld damit verdient zuzuhören. Ich möchte nicht mehr darüber reden. Ich verabschiede den halb mumifiziert wirkenden Mann mit einem Händedruck. Die letzten Worte seiner Geschichte klingen in mir nach: „Für einen Moment, einen winzigen, aber eben einen vorhandenen Moment, ging mir durch den Kopf. Ach wäre sie doch damals schon mit verbrannt …“

 Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition.

Samstag, 7. Februar 2009

Planet der Pondos - Leseprobe Anfang (1)


Sie hörte es brummen. Irgendwo im Hintergrund, gleichmäßig, leise, einschläfernd. Was ging es sie an?  Es war weit weg. Dabei sollte es bleiben. Tröpfchenweise trat an die Stelle wohliger Schläfrigkeit eine vage Furcht.
Sie öffnete die Augen, versuchte sich umzusehen. Erkannte nichts. Sah absolut nichts. Nichts als Finsternis. Eigentlich konnte sie sich nur eine Erklärung vorstellen: Sie war blind.
Sie schloss die Augen wieder. Suchte nach vernünftigen Gedanken. Was war mit ihr los? Wo befand sie sich? Warum? Wie kam sie hierher? Träumte sie? Fragen ohne Antwort. Die Erinnerung war fast so schwarz wie die Umgebung. Die letzten Stunden, Tage, Monate, vielleicht Jahre – einfach ausgelöscht.
So, mit geschlossenen Augen, sah sie sich selbst als Kind von kaum fünf Jahren. Das konnte lange, sehr lange zurück liegen. Angeblich erinnerten sich Säufer zwar nicht an Ereignisse der letzten Stunden, wohl aber an die Zeit davor. Sie erinnerte sich weder an die nahe noch an die fernere Vergangenheit. Nicht einmal an ihren Namen. War das nicht absurd? Immerhin war ihr schon eingefallen, dass sie einen Namen haben musste.
Was hatte sie erlebt in jenem gerade verschütteten Lebensabschnitt? Sie kannte wenigstens noch die Worte ihrer Sprache, wusste, was sie bedeuteten, wusste, dass so etwas vorkommt, dass jemand sein Gedächtnis verliert durch Schocks oder Unfälle.
Vorsichtig hob sie den Kopf, sah ihre Brüste als aufgerichtetes Hügelpaar. Sie war also ein Mädchen. Warum sie sich einbildete, ein fast erwachsenes Mädchen und keine Frau zu sein, wusste sie nicht. Aber das war wenigstens etwas. Sie ließ den Kopf fallen. Wunderte sich. Hatte sie nicht gerade etwas gesehen? Jetzt umgab sie totale Schwärze wie zuvor.
Das musste ein Traum sein, versuchte sie sich einzureden. Also sollte sie besser weiter schlafen und später erfrischt aufwachen. Dann erwiese sich diese Art, aus einem Traum aufzuwachen, hoffentlich selbst als Traum. Welch verlockender Gedanke! Nur sprachen ihre Empfindungen dagegen, selbst, wenn sie ihr irgendwie unvollständig vorkamen. Vergeblich kämpfte sie gegen die Vorstellung an, keine Hände zu haben, keine Beine, eigentlich überhaupt keinen Körper vom Kopf an abwärts. Empfand man so, wenn man gelähmt war? War sie etwa …
Nein, sie spürte etwas. Ja, da arbeiteten Nerven! Nicht Schmerzen. Dort, wo sie endlich ihren Körper fühlte, war ihr, als ob Amei­sen über die Haut krabbelten. Blut floss, als hätte es selbst bis jetzt geschlafen. Das war ein Grund zur Freude: Ziemlich sicher war sie nicht gelähmt. Und blind wohl auch nicht! Dann klärte sich der Rest bestimmt auch bald.
Einen Moment lag sie still. Überlegte. Müsste sie nicht noch mehr als ihren Kopf bewe­gen können? Weit unten die Beine zum Beispiel? Sie konzentrierte sich ganz fest auf die Zehen. Das Blut fußwärts fließen lassen. Ganz ruhig. So ähnlich wie bei autogenem Training, und sie stutzte, warum ihr ausgerechnet das einfiel, ihr eigener Name aber nicht. Und dieses Kribbeln nahm immer mehr zu. Sie wollte sich kratzen und konnte nicht. Wer sollte sich da konzentrieren können!
Uli! Uljana Silberbaum. Hach! Das war ihr Name. Er war einfach wieder da! Sie atmete tief durch, freute sich und vergaß darüber fast ihren eigensinnigen Körper.
Dafür kam eine andere Frage zurück. Wo lag sie eigentlich? Die Haut ihres Rückens verriet, es war kein Bett.
Uljana hob eine Hand, drückte den Zeigefinger auf die Nasenspitze, landete fast auf der Oberlippe. Immerhin. Sie hatte Arm, Hand und Finger fast genauso bewegt, wie sie es vorgehabt hatte, wenn auch mit Mühe. Nur die Haut kam ihr irgendwie taub vor oder … zumindest nicht normal.
Nun den ganzen Oberkörper hoch. Gut gesagt. Erst nach drei Versuchen gelang es. Uljana stieß dabei gegen einen Deckel über sich, der ihr bisher nicht aufgefallen war. Glücklicherweise war er nicht schwer und ließ sich mühelos hochklappen. Beruhigt, fast schon vergnügt, stellte Uljana fest, dass sie dazu den Arm, der eben noch so schwer gewesen war, bereits ohne große Probleme gestreckt hatte.
Noch immer war es ziemlich dunkel. Andererseits hell genug, dass Uljana Wände ringsum erkannte. Und viele Einzelheiten der sie umgebenden Halle. Als dimmte jemand eine versteckte Lampe hoch, sobald sie sich aufrichtete. Doch, ja, es war genau in dem Moment heller geworden, in dem sie den Deckel hochgestoßen hatte, um sich aufzusetzen. Löste sie den Effekt demnach selbst aus? Nur vorsichtig! Mit dem Blind- und dem Gelähmtsein hatte sie schon zwei voreilige Schlüsse gezogen. Das reichte.
Uljana sah sich unsicher um. Sie lag am Ende des Raums, an einer Tür. Die Halle war lang gestreckt und kam ihr fremd vor. Sie wurde durch einen schmalen Gang in der Mitte in zwei gleiche Hälften geteilt. Auf beiden Seiten ragten Behälter von etwa zwei Metern Länge und einem Meter Breite aus der Wand. Alle von derselben Art wie ihrer. Uljana schätzte auf jeder Seite mehr als hundert. Erschauerte. Särge! Wenn die Behälter überhaupt etwas ähnlich sahen, dann Särgen. Zumindest war die Ähnlichkeit verblüffend. Solche Szenen gehörten in Horrorfilme. Oder Albträume! Uljana ballte ihre Finger zu Fäusten. Aufwachen! Warum wachte sie nicht endlich auf?!

Freitag, 6. Februar 2009

Planet der Pondos - Leseprobe Anfang (2)


Sie ließ sich wieder zurück fallen. Dabei merkte sie, dass der Untergrund an ihre Körperform angepasst war. Eine Art Schale. Kein Sarg. Wenn sie nur wüsste, wie sie in diese Halle gekommen war!
Also noch einmal aufrichten! Uljana durchfuhr ein stechender Schmerz. Ihr Kopf war über Kabel mit einem Schaltkasten verbunden, an dem Kurven und Zahlen blinkten. Auch die linke Armbeuge und der Bauchnabel hingen auf diese Weise an dem Kasten. An einem der Kabel hatte sie beim Aufrichten gezogen. Uljana nahm sich vor, sich nicht mehr dieser lähmenden Angst hinzugeben und sich nicht mehr ruckartig zu bewegen.
Sie versuchte mehr zu erkennen. Entdeckte nur die drei Leitungen. Also hing sie nicht an einem Tropf. Meldete sich gerade wieder eine Erinnerung aus frühen Kinderzeiten? Wahrscheinlich. Ein Arzt sagte zu jemandem, den sie nicht sehen konnte, „Der Fuß ist wohl nicht zu retten, aber wir wollen alles versuchen …“ Nein, an der Stelle hörte der Film auf. Seltsam. Uljana sah sich durch die Luft fliegen, sah eine blendend helle Lampe über sich, spürte das Jucken überall, wo sie sich nicht kratzen konnte. Es half nichts. Wieder Dunkelheit.
Uljana musterte die Anzeigen auf dem Kasten. War sie krank? Manches war eindeutig beschriftet. Mit einigen Werten konnte sie sogar etwas anfangen. Der Herzschlag zum Beispiel war in Ordnung. Temperatur, Atemfrequenz. Selbst der Hämoglobinwert.
Dieses eintönige leise Summen… Uljana war sich sicher, dieses Geräusch früher noch nie gehört zu haben. Was war das? Sie lehnte sich wieder zurück, fühlte sich müde. Grübelte. Kalt war es nicht in dem Saal. Trotzdem. Warum lag sie nackt in einer Schale mit Deckel?
Sie schloss die Augen. Bilder, denen die Farbe fehlte. Langsame Bewegungen, dann wieder ein Ruck zum nächsten Bild. Ein Mann lächelte sie an. Sie streckte sich auf einer Liege aus. Freiwillig. Nackt. Aber warum?
Uljana zitterte. Jetzt! Das waren sie, die richtigen Bilder. In denen lag der Schlüssel ….
Eine Schwester strich ihr über die Stirn, richtete eine Spritze auf die Armbeuge … dann sah Uljana nichts mehr. Oder noch ganz kurz hinter der Schwester ihre Debbie.
Mum? Uljana sah sie deutlich vor sich. Debbie, ihre Mutter. Aber gleich in zwei Gestalten: Als ganz junge, wunderschöne Frau mit vollen, lockigen Haaren und als eine nicht mehr ganz so junge, immer noch attraktive. Wahrscheinlich während der Operationsvorbereitung in der Kinderzeit und bei dem Ereignis, an das sie sich unbedingt erinnern musste.
Uljana hörte das Blut im Ohr pulsieren. Wie bekäme sie endlich Ordnung in ihren verwirrten Schädel? Und woher kam der Gedanke, ihre Mutter läge gleich im nächsten Sarg? Sie brauchte nur aufzustehen und sich zu überzeugen? Es gab einen Grund für diese Sicherheit. Nur welchen?
Uljana wendete sich wieder dem Kasten mit seinen vielen Anzeigen zu. Schalter, Hebel, Druckknöpfe, …da stimmte doch etwas nicht. Es passte nicht zu den Erinnerungen. Also zu denen, die ganz dicht waren wie ein Wort, das man kennt und das einem genau in dem Moment, wenn man es aussprechen will, nicht einfallen will.
Die Akustiksteuerung! Das war es. Wieso war hier keine Akustiksteuerung installiert? Nahezu alles konnte man früher ansprechen und damit das jeweils gewünschte Programm aktivieren. Warum jetzt nicht? Oder doch? Also ausprobieren. Was wollte sie? Erst einmal „Kontakt lösen!“ Uljana sagte es laut, klar und deutlich.
Nichts geschah. Vielleicht mit einem anderen Kommando? Oder musste sie anstatt dessen unbedingt auf einen der Knöpfe drücken? Bloß auf welchen? Auf den grünen, über dem das Kabel zum Kopf endete? Schließlich streckte sie zaghaft eine Hand in Richtung Kasten aus und drückte auf den grünen Button. Das Gerät brummte auf. Ganz kurz schreckte Uljana zusammen. Warf sich auf die Unterlage. Noch während dieser Bewegung sprang das Kabel von ihrem Kopf ab. Dafür schoben sich zwei mechanische Hände aus den Seitenfronten ihres Behälters. Sie begannen ihre Haut zu massieren. Uljana schloss die Augen. War das angenehm! Sie hätte sich dehnen und strecken wollen. Die Massage vertrieb sowohl das Kribbeln als auch die unerklärliche Taubheit der Haut. Weiche Finger brachten endlich die Durchblutung in Ordnung. Zum ersten Mal, seit Uljana erwacht war, ohne zu wissen wo, fühlte sie sich wohl. Das könnte ewig so gehen, dachte sie noch. Dann verschwand alles um sie herum.
Irgendwann ertönte ein schmatzendes Geräusch und die beiden Strippen mit den Massagefingern wurden wie von unsichtbarer Hand in die Seitenverkleidung des Behälters zurückgezogen.
Die angenehmen Schauer wirkten nach. Erst allmählich fand Uljana wieder in ihren Behälter zurück. Sie fühlte sich wohlig schlaff. Jetzt einen Moment ruhen, dachte sie, und dann wäre alles wieder in Ordnung. Erneut war sie eingeschlafen.