Samstag, 2. Oktober 2010

Mit einem unnützen Mädchen (4 = Schluss)


   
... Dahinter eine junge Frau in Kittel und Kopftuch, beides lindgrün. Sie tritt vor, verbeugt sich andeutungsweise und erklärt Ich bin Schwester Jutta. Ich werde Sie auf die Operation vorbereiten. Herr Trockenbaum kann leider nicht dabei sein. Allerdings …Sie sieht zu Tanja. … fehlen mir Instruktionen… Wer von Ihnen soll zuerst auf die Liege? Tanjas Hand verkrampft in der meinen. Zusammen, bitte! Der Platz auf der Liege reicht doch für zwei. Schwester Jutta zieht die Brauen hoch, zögert einen Moment, antwortet dann aber ruhig Wie Sie wünschen. An e i n e Maschine?
Ja, bitte! Als wäre das ein besonderes Geschenk. Tanja hat jetzt mein rechtes Bein umschlungen. Ich wage nicht, nach unten zu sehen. Trockenbaum? Was hat…? Sollte…? Schwester Jutta spricht mir in den Zweifel hinein. Wir gehen erst einmal ins Bad. Legen Sie bitte Ihre Kleidung ab. … Soll ich dem kleinen Engel helfen? … Selbstverständlich machen Sie das besser. Sie vertraut Ihnen.
Die Luft ist angenehm warm. Mein Körper fühlt sich gestreichelt. Tanja hat sich auf die Seite gedreht und drückt mir ihren Kopf an die Brust. Als ich spüre, dass die Schwester vom Fußende aus ein Tuch über unsere Körper zieht, beginne ich zu strampeln. Bitte nicht! Warum denn schon über unsere noch lebenden Körper? Die Schwester fragt nichts. Im selben Moment ist mir mein Gedanke peinlich. Schwester Jutta tut doch nur ihre Pflicht wie bei allen anderen. Tanjas Locken kitzeln meine Brust. Tanja zittert.
So, Prinzessin, mit deinem Schopf fangen wir an. Die Stimme kommt wie von weither. Inzwischen liegt kaltes Leder an meinen Hand- und Fußgelenken und um den Hals. Um Tanjas auch. Ich fühle ihren an meine Seite gepressten Körper. Während es einschmeichelnd summt, wird ihr Druck stärker.
Sehen Sie nicht hin! Damit erreicht die Schwester, dass ich den Kopf so hoch hebe, wie die Halskrause es zulässt. Die Locken, Tanjas wunderschöne Locken! Da liegt ja eine Glatzkopfpuppe! Als spürte das Kind meinen Blick auf seinem entblößten Schädel, hebt es den Kopf. Ich heule. Ich bäume mich auf. Mit einer mir unbekannten Kraft lockere ich die Riemen. Ich befreie erst mich aus den Fesseln, dann Tanja, schlage um mich, stoße die verdutzte Jutta zurück, packe mein Kind. Renne. Egal, ob wir für diese Welt tot sind. Wir werden leben.
Die Schwester brüllt: Aber warum wollen Sie denn nicht ewig…Auch Tanja wehrt sich, macht sich schwer.
… Also nicht abgeschaltet? Trockenbaums haben an mich gedacht? Ich schleife meine kahlköpfige Tochter hinter mir her. Bleibe zögernd stehen. Drehe um. Höre Schritte näher kommen. Laufe wieder los. Zweifle und bremse. Denke, welche Ewigkeit die Maschine auch vollstreckt; draußen bleibt uns ein Vielleicht. AberBekomme den Gedanken nicht zu Ende. Die Verfolger haben uns fast erreicht. Da zieht mich Tanja vorwärts. Mit mir an der Hand gegen die anderen um die Wette zu laufen – was für ein Spaß. Meine Lunge ist voll, mein Herz pumpt kräftig, meine Füße federn. Ich kann schneller rennen als Tanja, aber ich lasse sie nicht los …


Die Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten „Mein außerirdischer Liebhaber“ bei der dorante Edition

Montag, 31. August 2009

Abea


Die folgende Erzählung erschien 2009 in einem Sammelband mit utopischen Geschichten “Mein außerirdischer Liebhaber” bei der dorante Edition.:

Abea (1)


Möchte ich in fremden Gehirnen lesen können, vor allem jetzt in seinem – wo ich sowieso schon zu viel weiß? Für meinen Beruf wäre es von Vorteil. In diesem Fall aber …. Nein, wahrscheinlich möchte ich es nicht.
Ich leite den Mann zu dem Platz, an den er sich in den Sitzungen gewöhnt hatIch ahne, was wirklich war, aber sträube mich, wie er, gegen die Wahrheit.
Er hatte sich freiwillig gemeldet. Sondereinsatz, Sonderprämie. Sie übertrugen die Erfahrungen ihrer langjährigen überlegenen Demokratie auf das Land dieses Diktators. Klar, wurde auf sie geschossen, mussten sie für Ordnung sorgen, Waffen einsetzen, die mit Splittern und mit Strahlen alle potentiellen Mörder und Terroristen für immer handlungsunfähig machten. Dann entstanden schon einmal Berge von Menschenteilen, die sie nicht liegen lassen konnten. Schließlich waren sie hier, um Ordnung zu bringen. Und er war dran, im Schutzanzug die Terroristen zu einem Haufen zusammenzukarren, damit sie umweltverträglich entsorgt würden.
Da entdeckte er sie.
Es war eigentlich unmöglich. Die eingesetzten Befriedungsmittel durften kein Zucken zurücklassen. Doch ihre Augen sahen ihn an. Sie waren groß und wunderschön. Dunkel wie die feuchte, fruchtbare Krume seiner Heimat, frisch durchgegrubbert nach der Schneeschmelze im März. Sie schienen zu sagen, ich habe dich lieb, du Gespenst. Ich will dich retten. Hatte er das gelesen? Von diesem Gespenst von Canterbury? War er das Gespenst, das gerettet werden musste?
Er achtete nicht auf die anderen ringsum. Sah nur dieses Mädchen. Zog es aus dem Körperberg hervor. Es war verschwitzt. Eine kleine Schramme an der linken Schläfe wurde vom sandigen schwarzen Kraushaar halb verdeckt, ansonsten aber schien es unverletzt. Das Kleid oder wie man dieses Kleidungsstück nennen mochte, Burnus oder so, war gleichfalls an der linken Schulter zerrissen, so weit, dass es eine bubenhafte Brustwarze hervorschauen ließ. Das Mädchen hatte nicht die Kraft, die Blöße zu bedecken. Leben war nur noch in seinen Augen.
Für einen Moment wollte er das Kind zu dem restlichen Haufen stoßen. So verstrahlt, wie es war, würde es sowieso bald sterben. Ein Gnadenschuss würde es vor Qualen bewahren. Aber da war immer noch dieser Blick, diese Augen.
Was für ein Unsinn! Was dachte er ausgerechnet jetzt an Samantha, die so gern ein Kind gehabt hätte? Ein unbegreiflicher Reflex bewegte seinen Mund: „Wie heißt du, Mädchen?“
Er dachte sofort: Sam, bist du blöd! Sie kann dich nicht verstehen. Du müsstest durch deinen Anzug viel lauter sprechen. Und selbst dann – wie sollte dieses Mädchen deine Sprache verstehen?
Da hörte er Laute aus ihrem Mund: „Heißt du Mädchen Abea.“
Der Sergeant Samuel Mc Fadden packte das Kind an den Armen, schleppte es von dem Körperentsorgungshaufen fort zu seiner Batterie, und er drehte sich auch nicht um, als hinter ihm die Flammen mit einem dumpfen Puffen anfingen, den anderen Körpern Gnade zu erweisen.