Nein, das ist kein SF-Roman-Anfang. Das ist der erste Satz auf dem Buchrücken von "Gemeinschaft der Glückssüchtigen". Das aber ist ein Buch, dessen utopischer Bezug ... Also wahrscheinlich konnte ich es nur so schreiben, weil ich schon mehrere fertig geschriebene SF-Roman-Manuskripte in der Schublade hatte. Das Entscheidende ist, dass in diesem Buch u.a. beschrieben wird, wie die Gesellschaft der Zukunft praktisch funktionieren könnte, der Unterschied zur Science Fiktion ist, dass ich versucht habe herzuleiten, warum das so sein müsste. Obwohl es also eigentlich eher ein politische Sachbuch ist, sollte es mit Vergnügen / Genuss gelesen werden können:
Mittwoch, 1. Mai 2013
Sonntag, 31. März 2013
Leseprobe zu Slov ant Gali / Ricardo Riedlinger "Der lebende See"
… Ich hätte gern weiter
geträumt, aber Tanja stößt mir ihren Ellenbogen zwischen die
Rippen. Etwas stimmt nicht. Irgendetwas ist anders als sonst. Nur
was? Grübeln ist sinnlos. Ich schlafe sowieso nicht wieder ein.
Obwohl … Ich blinzele. Tanja hat sich halb aufgedeckt. Ich decke
sie zu und schleiche ins Bad, komme aber nicht dazu, mir in Ruhe die
Zähne zu putzen. Tanja steht plötzlich in der Tür.
Sie hält sich die linke
Hand über die Augen und quäkt “Warum läuft denn gar keine
Musik?” Das also ist es – das ewige leise Berieseln mit
harmonischen Klängen hat mir gefehlt. Ich laufe ins Wohnzimmer.
Gespenstische Stille, der Monitor dunkel, kein grünes Signallicht am
Tower. Ich drücke halb verärgert, halb verängstigt den großen
schwarzen Knopf. Auf dem Bildschirm erscheinen drei überdimensionale
Ausrufezeichen. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich sie
anstarre, lösen sie sich pixelweise auf. An ihrer Stelle macht sich
ein Schriftzug auf dem ganzen Monitor breit: “Sie haben die
vorausgegangenen automatischen Warnungen nicht ernst genommen.” Tanja
ist hinter mich getreten. “Is was, Mama?” — “Nein,
nein.” Wie, um mich Lügen zu strafen, kommt die nächste
Meldung. “Sie haben seit sieben Tagen Ihr genehmigtes Limit
überschritten. Gleichen Sie innerhalb der nächsten 72 Stunden Ihr
Konto aus! Sollten Sie diese Chance bis zum 28. November, 0.00 Uhr,
missachten, wird auch Ihr restlicher Nutzercode gelöscht. Alle
Schaltfunktionen verbleiben dann in der jeweiligen Ist-Stellung. Die
Entsorgung Ihrer Überreste vereinbaren Sie bitte mit einer der
zuständigen Firmen. Wählen Sie nach Betätigung des OK-Buttons eine
aus!”
Ich setze mich zitternd
auf den Computersessel. Ohne zu überlegen drücke ich OK. Sofort
scrollt eine Liste über den Bildschirm. Ich versuche, den Computer
abzuschalten, aber anstatt mir zu gehorchen setzt er sein
Fremdprogramm bei den Ausrufezeichen fort. Das ist also eine
Endlosschleife. Genauer, eine Schleife bis zum 27. November, 24.00
Uhr. Dann kommt die Dunkelheit, eine verschlossene Wohnungstür …
oder eine nicht mehr verschließbare, sollte ich sie zuvor
offengelassen haben. Aber was hätte ich mit dem Offenlassen meiner
Wohnungstür gewonnen, ohne elektronischen Code fürs Haus? Alle
Zähler, jeder Strom, einfach alles wäre für mich unerreichbar. Ich
wäre tot, bevor ich tot wäre. Und Tanja auch.
Beim zweiten Durchlauf der
Schrift beginne ich zu frieren. Ich bin nackt, so unendlich nackt.
Mit starrem Blick renne ich an Tanja vorbei ins Bad und drehe den
Hahn für das heiße Duschwasser bis zum Anschlag. Die auf mich
einprasselnden Schauer röten mir augenblicklich die Haut. Dampf
lässt den Spiegel erblinden. Die Tür geht auf. Tanja wirft ihr
Nachthemd neben die Toilette. Ihr Lachen klingt fern. Bevor ich mich
ihr richtig zugewendet habe, höre ich sie schreien. “Au,
Mama, das kocht ja!” Ich komme wieder zu mir, regele die
Wassertemperatur herunter und beginne, Tanja zu bespritzen. Die lässt
am Waschbecken kaltes Wasser laufen, formt ihre Hände zu einer
Schüssel und zielt auf meinen Bauch. “Treffer!” Ich
quieke und bald sind wir außer Atem …
Wieder am Computer,
beginne ich wie wild zu diktieren. Zum Mittagessen hole ich Tanjas
Lieblingspizza aus dem Kühlschrank, und als sie nachmittags auf dem
Hof spielen will, sage ich nur, “Ich ruf dich dann.” Da
habe ich schon etwa 200 Mails versendet. Bettelbriefe, Bewerbungen
mit der Bitte um Vorschuss, Anfragen nach einem Gelegenheitsjob.
…zu den Outsidern? Mit
Tanja? Inzwischen ist eine Anfrage nach einem Bild von ihr
eingegangen. Wenn noch keine Haare zwischen den Beinen gewachsen
seien, hätte man Verwendung für sie … Woher hat dieser Ekelbock
nur so schnell von meiner Tochter erfahren? Oder hängen sich die
Programme der Kinderhändler einfach automatisch an
Bewerbungsabsagen? Traurig werfe ich Tanjas Lieblingskleid in den
Schmutzwäschebehälter.
Der 26. November vergeht
ohne Auffälligkeiten. Ich kann mich einfach nicht entschließen. Was
ich über die Outsider gehört habe, schreckt mich ab. Ein
verwildertes Dasein mit Tanja? Nein.
Ich checke alle
eingegangenen Rückmeldungen: 180 Absagen. Soll ich die
unbeantworteten Mails zählen? Vielleicht kommt noch was Positives?
Vier Bieter fragen nach Tanja. Alle wollen das Mädchen sofort
benutzen. Bleibt denn wirklich nur die Möglichkeit, unter
verschiedenen Formen des Entsorgens zu wählen?! Ich muss handeln.
Sonst werden wir in der abgedichteten Wohnung ersticken oder
verhungern oder verdursten. Dann sollen sie uns wenigstens
professionell entsorgen. Ich klicke den Katalog an.
“Wir garantieren einen
Abschied von der Vulgärexistenz für Mutter und Tochter in würdiger
Gemeinschaft – schmerzfrei und glückstraumerfüllt.” So
also klingt für uns positiv. Eine steuerfinanzierte Leistung. Kaum
berührt der Cursor die Pforte des abgebildeten Gebäudes, verkünden
zwei seriös gekleidete Herren, dass sie gern für die gewünschte
Operation zur Verfügung ständen.
Der Vertragstext blinkt
auf. Bei einem Paragraphen erwache ich kurz. Was? “... Ich
stelle alle meine funktionsfähigen Organe anderen Vulgärexistenzen
zur Nachnutzung zur Verfügung …”? Lässt sich das ausschalten?
Natürlich. Wir leben ja in einer freien Gesellschaft. Da kann jeder
über seinen Körper verfügen. Nur wer auf “Weiter” klickt,
bestätigt sein Einverständnis. Ich nicht. Ihr bekommt keine
Ersatzteile aus meinem Körper … und aus Tanjas erst recht nicht.
Mit dem Gefühl, es der Welt so richtig gezeigt zu haben, beende ich
das Vertragsstudium und signiere mit Karte. 30 Stunden noch.
Ich erzähle Tanja eine
Gute-Nacht-Geschichte. Dann streiche ich ihr über die Stirn und
frage im Tonfall des vorangegangenen Märchens: “Wenn
plötzlich zwei Männer kämen und wollten uns beide an einen Ort
holen, an dem wir noch nie gewesen sind und von wo wir nie mehr
zurückkämen, möchtest du dann mit?” Tanja murmelt: “Ist
es da schön?” Und ich antworte: “Schöner als
hier.” Wie glücklich Tanja da “Ja!” sagt ...
Als ich unter die Decke
krieche, hat sie sich wie ein Embryo zusammengerollt. Kaum spürt sie
meine Nähe, versucht sie mich wie einen Teddy zu umfassen. Obwohl
ich sie ganz gleichmäßig atmen höre, kann ich nicht einschlafen.
27. November, 7.30 Uhr.
Ich habe geträumt, in meinen Schützengraben dringt eine weiße
Wolke ein. Winzige Sternchen krabbeln in meine Nase. Ich möchte
allzu gern niesen, aber es geht einfach nicht. Ich hole tief Luft …
und endlich pruste ich alle diese Gassternchen wieder aus, öffne die
Augen und … sehe in Tanjas verschmitztes Gesicht. Sie lacht und
dann krümmt sie sich und sieht hoch und krümmt sich schon wieder –
wegen meiner Grimasse. Endlich entdecke ich das Haar in ihren
Fingern, das sie gerade aus meinem Nasenloch gezogen hat, und
rufe “Na warte!” Wir balgen herum …unser letzter Tag.
Tanja ist beim Frühstück
sehr still. Ob wohl mit mir etwas nicht in Ordnung ist? Tanja fragt
nicht, guckt mich aber mehrmals prüfend an. Nur was sollte ich
sagen? Die Wahrheit? ...
Abonnieren
Posts (Atom)