Montag, 11. November 2013

SF-Story 2 in "Der lebende See": ... mit einem unnützen Mädchen (Anfang)

Es war der 25. November. Es war kein besonderer Tag und ich schlief. Was ich noch nicht wusste: Meinen Computerwecker hatte man bei null Uhr angehalten und meine Nummer für fakultativen Service existierte nicht mehr.

Auch Tanja schlief. Sie war in der Nacht aus ihrem Bett gestiegen und die paar Schritte barfuß zu mir getapst. Ich hatte ihr wie immer etwas Beruhigendes entgegengebrummt und sie an mich gezogen. Dass die Luft da schon auf 15 Grad abgekühlt war, war uns beiden nicht aufgefallen. Auch der Sauerstoffgehalt war vermutlich erst wenig abgesunken.

Tanja war das dritte in meinem Bauch gewachsene Kind. Bei mir war seinerzeit nur die Leihmutterschaft als Gelderwerb in Betracht gekommen. Ich vermochte mich immerhin gewählt auszudrücken, hinterließ einen zuverlässigen und zugleich gebildeten Eindruck. So hatte meine Arbeit Erfolg versprechend mit der Übergabe zweier Jungen begonnen. Die vermögenden Auftraggeberfamilien waren mit mir zufrieden. Die Trockenbaums versprachen sogar, mich später unsterblich zu machen. Natürlich kamen sie nachher nicht wieder darauf zurück. Man verspricht ja sehr viel im Moment besonders großer Freude. Das nächste Baby wurde dann früh als werdendes Mädchen identifiziert. Das aber hatte der Vertrag ausgeschlossen. Ich sollte abtreiben. Für Mädchen bedürfe es ja wohl keiner althergebrachten Schwangerschaft. Ich hatte mich geweigert, war deshalb für meinen Beruf untragbar geworden und kümmerte lange so vor mich hin, immer hart an der Grenze, vom Netz genommen, abgeschaltet, gelöscht zu werden. Wie soll man Vulgärexistenzen wie mich verwerten? Allein in den illegalen Survivalzonen hätte keiner danach gefragt. Dort überlebten angeblich einige Outsider ohne Servicenummer und Chips und all das Zeug, das bewies, dass man – wenn auch nur für begrenzte Zeit – existierte.

Richtige, eben unsterbliche Existenz steht nur einer vermögenden Elite zu. Ihrer von Natur aus mangelhaft konstruierten Körper ledig sehen sich diese Menschen dann über Neuronennetzanschlüsse permanent durch nach den eigenen Wünschen ausgestaltete Landschaften laufen. Sie schmecken die edelsten Speisen, ohne wirklich essen zu müssen und sie genießen die traumhaftesten Partner – ohne jeden störenden Ärger. Ansonsten ändert sich nichts. Großrechnersysteme optimieren alle ihre Lebensfunktionen normalerweise auch schon in der Vulgärexistenz, nur …
Ich hätte gern weiter geträumt, aber Tanja stößt mir ihren Ellenbogen zwischen die Rippen. Etwas stimmt nicht. Irgendetwas ist anders als sonst. Nur was? Grübeln ist sinnlos. Gerade dann, wenn ich etwas unbedingt schaffen will, habe ich so eine totale Denkblockade. Ich komme nicht auf die einfachste Lösung. Da hilft nur, etwas ganz Anderes zu tun oder denken. Aber wieder einschlafen? … Ob ich es versuchen sollte?
Ich blinzele. Tanja hat sich halb aufgedeckt. Ich decke sie zu und schleiche ins Bad, komme aber nicht dazu, mir in Ruhe die Zähne zu putzen. Tanja steht in der Tür. Sie hält sich die linke Hand über die Augen und quäkt “Warum läuft denn gar keine Musik?”
Das also ist es – das ewige leise Berieseln mit harmonischen Klängen fehlt. Ich laufe ins Wohnzimmer. Gespenstische Stille, der Monitor dunkel, kein grünes Signallicht am Tower. Ich drücke halb verärgert, halb verängstigt den großen schwarzen Knopf. Auf dem Bildschirm erscheinen drei überdimensionale Ausrufezeichen. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich sie anstarre, lösen sie sich auf. An ihrer Stelle macht sich ein Schriftzug auf dem ganzen Monitor breit:
Sie haben die vorausgegangenen automatischen Warnungen nicht ernst genommen.”
Tanja ist hinter mich getreten. “Is was, Mama?”
Nein, nein.”
Wie, um mich Lügen zu strafen, kommt die nächste Meldung. “Sie haben seit sieben Tagen Ihr genehmigtes Limit überschritten. Gleichen Sie innerhalb der nächsten 72 Stunden Ihr Konto aus! Sollten Sie diese Chance bis zum 28. November, 0.00 Uhr, missachten, wird auch Ihr restlicher Nutzercode gelöscht. Alle Schaltfunktionen verbleiben dann in ihrer jeweiligen Stellung. Ist diese mit einem Verbrauch verbunden, wird sie auf Null korrigiert. Sie existieren dann nicht mehr. Die Entsorgung Ihrer Überreste vereinbaren Sie bitte jetzt mit einer der zuständigen Firmen. Wählen Sie nach Betätigung des OK-Buttons eine aus!”
Ich setze mich zitternd auf den Computersessel. Ohne zu überlegen drücke ich tatsächlich auf OK. Sofort scrollt eine Liste über den Bildschirm. Ich versuche, den Computer abzuschalten, aber anstatt mir zu gehorchen setzt er sein Fremdprogramm bei den Ausrufezeichen fort. Das ist also eine Endlosschleife. Genauer, eine Schleife, die der Computer bis zum 27. November, 24.00 Uhr, ununterbrochen abarbeiten wird. Dann kommt die Dunkelheit, eine verschlossene Wohnungstür … oder eine nicht mehr verschließbare, sollte ich sie zuvor offengelassen haben. Aber was hätte ich mit dem Offenlassen meiner Wohnungstür gewonnen, ohne elektronischen Code fürs Haus? Alle Zähler, Strom, Wasser ... einfach alles wäre für mich unerreichbar. Ich wäre tot, bevor ich tot wäre. Und Tanja auch.
Beim zweiten Durchlauf der Schrift beginne ich zu frieren. Ich bin nackt, so unendlich nackt. Mit starrem Blick renne ich an Tanja vorbei ins Bad und drehe den Hahn für das heiße Duschwasser bis zum Anschlag. Die auf mich einprasselnden Schauer röten mir augenblicklich die Haut. Dampf lässt den Spiegel erblinden. Die Tür geht auf. Tanja wirft ihr Nachthemd neben die Toilette. Ihr Lachen klingt fern. Bevor ich mich ihr richtig zugewendet habe, höre ich sie schreien. “Au, Mama, das kocht ja!” Ich komme wieder zu mir, regele die Wassertemperatur herunter und beginne, Tanja zu bespritzen. Die lässt am Waschbecken kaltes Wasser laufen, formt ihre Hände zu einer Schüssel und zielt auf meinen Bauch. “Treffer!” Ich quieke und bald sind wir außer Atem …

Wieder am Computer, beginne ich wie wild zu diktieren. ...

...

 Bestellung
zur Bestellung

Mittwoch, 6. November 2013

SF-Story 1 in "Der lebende See": Abea (Anfang)

Möchte ich in fremden Gehirnen lesen können, vor allem jetzt in seinem – wo ich sowieso schon zu viel weiß? Für meinen Beruf wäre es von Vorteil. In diesem Fall aber … Nein, wahrscheinlich möchte ich es nicht.
Ich leite den Mann zu dem Platz, an den er sich in den Sitzungen gewöhnt hat. Ich ahne, was wirklich war, aber ich sträube mich gegen die Wahrheit. Wie er.
Er hatte sich freiwillig gemeldet. Sondereinsatz, Sonderprämie. Sie übertrugen die Erfahrungen ihrer überlegenen Demokratie auf das Land dieses Diktators. Klar wurde auf sie geschossen, mussten sie für Ordnung sorgen, Waffen einsetzen, mit Splittern und Strahlen alle potentiellen Mörder und Terroristen für immer handlungsunfähig machen. Diesmal war er dran, im Schutzanzug die Haufen zusammenzukarren, damit sie umweltverträglich entsorgt würden.
Da entdeckte er sie.
Es war eigentlich unmöglich. Die eingesetzten Befriedungsmittel durften kein Leben zurücklassen, menschliches schon gar nicht. Doch ihre Augen sahen ihn an. Sie waren groß und wunderschön. Dunkelbraun, fast schwarz wie die feuchte, fruchtbare Krume seiner Heimat, frisch durchgegrubbert nach der Schneeschmelze im März. Sie schienen zu sagen, ich habe dich lieb, du Gespenst. Ich will dich retten. Hatte er das gelesen? Von diesem Gespenst von Canterville? War er das Gespenst, das gerettet werden musste? Wieso sollte er gerettet ...
Er achtete nicht auf die anderen ringsum. Sah nur dieses Mädchen. Zog es aus dem Berg von Schutt und Körpern hervor. Es war verschwitzt. Eine kleine Schramme an der linken Schläfe wurde vom sandsatten schwarzen Kraushaar halb verdeckt, ansonsten aber schien es unverletzt. Das Kleid oder wie man dieses Kleidungsstück nennen mochte, Burnus oder so, war gleichfalls an der linken Schulter zerrissen, so weit, dass es eine bubenhafte Brustwarze hervorschauen ließ. Das Mädchen hatte nicht die Kraft, die Blöße zu bedecken. Leben war nur noch in seinen Augen.
Für einen Moment wollte er das Kind zum Rest stoßen. So verstrahlt, wie es war, würde es sowieso bald sterben. Ein Gnadenschuss würde es vor Qualen bewahren. Aber da war immer noch dieser Blick, diese Augen.
Was für ein Unsinn! Was dachte er ausgerechnet jetzt an Samantha, die so gern ein Kind gehabt hätte? Ein unbegreiflicher Reflex bewegte seinen Mund: „Wie heißt du, Mädchen?“
Er dachte sofort: Sam, bist du blöd! Sie kann dich nicht verstehen. Du müsstest durch deinen Anzug viel lauter sprechen. Und selbst dann – woher sollte dieses Mädchen deine Sprache kennen?
Da hörte er Laute aus ihrem Mund: „Heißt du Mädchen Abea.“
Der Sergeant Samuel Mc Fadden packte das Kind an den Armen, schleppte es von dem Körperentsorgungshaufen fort zu seiner Batterie, und er drehte sich auch nicht um, als hinter ihm die Flammen mit einem dumpfen Puffen anfingen, den anderen Körpern Gnade zu erweisen.

***

Sie war über eine Schwelle getreten. Hinter ihr war nichts, jedenfalls nichts, woran sie sich hätte erinnern können. In diesem Moment wusste sie nicht mehr, was sie jemals erlebt hatte, vor allem nicht, was gerade passiert war. Nur, dass sie sich nicht bewegen konnte. Um sie herum stank es fürchterlich und niemand war da, bei dem sie das hätte beklagen können.
Plötzlich stand ES vor ihr. ES war sehr groß, glänzte weiß, hatte keine Haare, keinen richtigen Mund, aber riesige ovale Augen. Beine auch, aber die bemerkte sie erst später. Sie bestaunte die fremden Riesenaugen.
Du wirst mir nichts tun. Ich habe dich lieb. Ich habe überhaupt keine Angst vor dir. Ich habe dich lieb.
Abea wunderte sich. Deutlich verstand sie, dass ES an eine Samantha dachte. Die hatte traurige blaue Augen und locker auf die Schulter fallende Haare von der Farbe der Wüste bei Windstille. ES dachte Gnadenschuss und Abea hätte zu gern gewusst, was das bedeutete. ES wollte wissen, wer sie war. Und Abea nahm die Worte von IHM und ergänzte ihren Namen. Sie zögerte, wollte zurück-fragen, aber ES würde sie ja nicht verstehen. Da riss ES sie nach oben, und Abea sah vor sich einen schwarzen Himmel.


***
...

 Bestellung
zur Bestellung