Samstag, 16. November 2013

SF-Story 3 in "Der lebende See": Kinder (Anfang)

(1)
Claudia heulte hemmungslos. Längst war aller Zellstoff aufgebraucht. Nimm dich endlich zusammen, meinte die eine innere Stimme - wozu denn, antwortete die andere, es sieht ja keiner.
Aber du musst Martin endlich antworten!
Es hat sowieso keinen Sinn mehr.
Martin hatte Claudia vor neun Monaten kontaktiert. Da blinzelte sie noch als ungewöhnlich attraktive 15-Jährige in die Webcam. Mit ausgestopftem Bikinioberteil unter dem hautengen Top. Martin fragte prompt danach und sie verkündete stolz: „75 C ...“ Früher zumindest hieß das so. „Gefällt´s dir?“ Was blödelten sie danach herum! Martin war ein Glücksfall. Er sah richtig scharf aus, ein Typ, dem die Mädchen garantiert hinterherliefen, zugleich aber wirkte er schon bei ihrem ersten „internetten“ Aufeinandertreffen überraschend reif trotz seiner 15. Verständig. Nicht so wie die Jungen, denen Claudia bis dahin begegnet war. Vielleicht …
Nein, es war besser, dass sie sich nicht wirklich nahe gekommen waren. Viel Zeit war ihr nicht mehr geblieben. Jeden Morgen hatte sie sich ängstlich nach Symptomen der Krankheit abgesucht. Und dann die ersten Zeichen entdeckt ... und die Bildverbindung einfach unterbrochen. Irgendetwas an dem Programm funktioniere nicht. „... Keine Ahnung, was. Vielleicht ein Problem mit unserem Netzanbieter. Reklamation ist raus … aber ob jemand sie bearbeitet ...“
Seitdem chatteten sie wie in der Anfangszeit des Internets. Der eine schrieb, verschickte seinen Text und wartete auf die Antwort des anderen. Die Handynetze waren ja längst zusammengebrochen.
Später dann kam es Claudia vor, als alterte sie mit jedem Tag um ein Jahr. Sie übertrieb natürlich. Sie wäre dann ja schon 280 Jahre alt und das hatte es selbst in den besten Zeiten nicht gegeben. Aber kam sie sich mitunter nicht so vor?
Hätte sie Martin nicht doch einweihen, ihm zum Beispiel damals schreiben sollen, als sie sich das erste Mal nicht mehr die Zehennägel lackieren konnte? Weil sie nicht mehr dort unten ankam? Vor Schmerz hätte brüllen mögen? Bei aller Vernunft … Martin war doch nur ein Junge … was verstand der von gesund glänzenden Nägeln und dem Ekel, den ihre Füße jetzt bei ihr aus-lösten?
Immerhin konnte sie sich mit ihm über Bücher austauschen. Er las selbst noch richtige, verstand, was drin stand, diese Probleme von Greisen, die viel älter geworden waren als 30 Jahre. Er hörte ihr zu, wenn sie ihm von Sanne und Tim erzählte. So verständnisvoll, obwohl er gar keine Geschwister hatte und seine Bekannten auch nicht. Aber er gab sich große Mühe, ihr Tipps zu geben, worin sie die beiden unterrichten sollte und wie. Richtig gute sogar. In der Schule wäre Martin bestimmt Spitze gewesen und Lehrer geworden, vielleicht. Er lernte gerade Gitarre. Das wär was für Sanne. Die brauchte unbedingt Sexualkundeunterricht.
Tim war zwar nur 15 Monate jünger als Sanne, aber er zeigte glücklicherweise noch kein Interesse an solchen Dingen. Wie sollte Claudia das alles einer Neunjährigen erklären? Sanne sollte doch Bescheid wissen. Oder lieber noch nicht?
Sannes Blicke waren Claudia manchmal richtig unheimlich. Eiskalt lief es ihr dann den Rücken herunter. „Kann sein, die weiß schon alles. Alles, verstehst du, Martin“, hatte sie geschrieben,„... alles …“
Darauf war Martin nicht eingegangen.
Ach Martin …
Es ist bestimmt besser, dass du mich so … wieder schluchzte Claudia auf … so sexy in Erinnerung behältst. Was war das schon für ein Leben? Sie trug inzwischen einen ganzen Millimeter Farbcreme auf, um noch als Frau wahrgenommen zu werden und nicht als Greisin. Obwohl … in den letzten Wochen war Claudia überhaupt nicht mehr draußen gewesen. Längst erledigte Sanne alles, wozu man raus musste. Einkaufen und so. Sanne blieb in letzter Zeit lange draußen weg. Wenn Claudia fragte, wie sie zum Beispiel zu dem frischen Gemüse gekommen war, lächelte sie nur still wissend in sich hinein. Wie viel wusste sie vom Leben? Zu viel, bestimmt zu viel!
War das seltsam. Nicht einmal erwähnte Martin ihr gegenüber die Krankheit. Obwohl es doch nichts Wichtigeres gab auf der Welt. Alle redeten von ihr. Ahnte er, warum auch sie das Thema umging?

Ganz plötzlich wurde es Claudia bewusst. Martin war doch im selben Alter. Vielleicht klemmte, seit sie sich nur noch schriftlich verständigten, ein Foto von ihr an seinem Monitor. Er saß am Computer, starrte ihr Bild an, seinen Penis in der Hand ... Die meisten Jungen machten das so. Und da bemerkte er, dass es nicht ging. Dass da nur etwas Schwabbeliges zwischen seinen Beinen hing und sich ohne Wirkung streicheln ließ trotz Claudias gewagtestem Foto. Nichts! Das war vielleicht für einen Jungen noch viel schlimmer als ihr Altern als Frau. Denn noch, als sie schon aussah wie Ende 30, war sie eine Frau, nach der die Männer sich umdrehten. Martin war vielleicht schon längst kein Mann mehr, also vom Selbstgefühl, und er hatte es die ganze Zeit verleugnet. Dann chatteten sie in den letzten Wochen also deshalb so viel miteinander, weil auch Martin kaum den Weg auf die Straße schaffte. Claudia versuchte sich den Jungen mit dem Gesicht eines Greises vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Nein, es klappte einfach nicht. Vor Monaten hatte er doch noch Kopfstand vor dem Kameraauge gemacht, um sich so mit ihr zu unterhalten, und nun lief er über einen Rollator gebeugt herum? Nein! Das mochte und wollte Claudia sich nicht ausmalen. ...

Montag, 11. November 2013

SF-Story 2 in "Der lebende See": ... mit einem unnützen Mädchen (Anfang)

Es war der 25. November. Es war kein besonderer Tag und ich schlief. Was ich noch nicht wusste: Meinen Computerwecker hatte man bei null Uhr angehalten und meine Nummer für fakultativen Service existierte nicht mehr.

Auch Tanja schlief. Sie war in der Nacht aus ihrem Bett gestiegen und die paar Schritte barfuß zu mir getapst. Ich hatte ihr wie immer etwas Beruhigendes entgegengebrummt und sie an mich gezogen. Dass die Luft da schon auf 15 Grad abgekühlt war, war uns beiden nicht aufgefallen. Auch der Sauerstoffgehalt war vermutlich erst wenig abgesunken.

Tanja war das dritte in meinem Bauch gewachsene Kind. Bei mir war seinerzeit nur die Leihmutterschaft als Gelderwerb in Betracht gekommen. Ich vermochte mich immerhin gewählt auszudrücken, hinterließ einen zuverlässigen und zugleich gebildeten Eindruck. So hatte meine Arbeit Erfolg versprechend mit der Übergabe zweier Jungen begonnen. Die vermögenden Auftraggeberfamilien waren mit mir zufrieden. Die Trockenbaums versprachen sogar, mich später unsterblich zu machen. Natürlich kamen sie nachher nicht wieder darauf zurück. Man verspricht ja sehr viel im Moment besonders großer Freude. Das nächste Baby wurde dann früh als werdendes Mädchen identifiziert. Das aber hatte der Vertrag ausgeschlossen. Ich sollte abtreiben. Für Mädchen bedürfe es ja wohl keiner althergebrachten Schwangerschaft. Ich hatte mich geweigert, war deshalb für meinen Beruf untragbar geworden und kümmerte lange so vor mich hin, immer hart an der Grenze, vom Netz genommen, abgeschaltet, gelöscht zu werden. Wie soll man Vulgärexistenzen wie mich verwerten? Allein in den illegalen Survivalzonen hätte keiner danach gefragt. Dort überlebten angeblich einige Outsider ohne Servicenummer und Chips und all das Zeug, das bewies, dass man – wenn auch nur für begrenzte Zeit – existierte.

Richtige, eben unsterbliche Existenz steht nur einer vermögenden Elite zu. Ihrer von Natur aus mangelhaft konstruierten Körper ledig sehen sich diese Menschen dann über Neuronennetzanschlüsse permanent durch nach den eigenen Wünschen ausgestaltete Landschaften laufen. Sie schmecken die edelsten Speisen, ohne wirklich essen zu müssen und sie genießen die traumhaftesten Partner – ohne jeden störenden Ärger. Ansonsten ändert sich nichts. Großrechnersysteme optimieren alle ihre Lebensfunktionen normalerweise auch schon in der Vulgärexistenz, nur …
Ich hätte gern weiter geträumt, aber Tanja stößt mir ihren Ellenbogen zwischen die Rippen. Etwas stimmt nicht. Irgendetwas ist anders als sonst. Nur was? Grübeln ist sinnlos. Gerade dann, wenn ich etwas unbedingt schaffen will, habe ich so eine totale Denkblockade. Ich komme nicht auf die einfachste Lösung. Da hilft nur, etwas ganz Anderes zu tun oder denken. Aber wieder einschlafen? … Ob ich es versuchen sollte?
Ich blinzele. Tanja hat sich halb aufgedeckt. Ich decke sie zu und schleiche ins Bad, komme aber nicht dazu, mir in Ruhe die Zähne zu putzen. Tanja steht in der Tür. Sie hält sich die linke Hand über die Augen und quäkt “Warum läuft denn gar keine Musik?”
Das also ist es – das ewige leise Berieseln mit harmonischen Klängen fehlt. Ich laufe ins Wohnzimmer. Gespenstische Stille, der Monitor dunkel, kein grünes Signallicht am Tower. Ich drücke halb verärgert, halb verängstigt den großen schwarzen Knopf. Auf dem Bildschirm erscheinen drei überdimensionale Ausrufezeichen. Als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich sie anstarre, lösen sie sich auf. An ihrer Stelle macht sich ein Schriftzug auf dem ganzen Monitor breit:
Sie haben die vorausgegangenen automatischen Warnungen nicht ernst genommen.”
Tanja ist hinter mich getreten. “Is was, Mama?”
Nein, nein.”
Wie, um mich Lügen zu strafen, kommt die nächste Meldung. “Sie haben seit sieben Tagen Ihr genehmigtes Limit überschritten. Gleichen Sie innerhalb der nächsten 72 Stunden Ihr Konto aus! Sollten Sie diese Chance bis zum 28. November, 0.00 Uhr, missachten, wird auch Ihr restlicher Nutzercode gelöscht. Alle Schaltfunktionen verbleiben dann in ihrer jeweiligen Stellung. Ist diese mit einem Verbrauch verbunden, wird sie auf Null korrigiert. Sie existieren dann nicht mehr. Die Entsorgung Ihrer Überreste vereinbaren Sie bitte jetzt mit einer der zuständigen Firmen. Wählen Sie nach Betätigung des OK-Buttons eine aus!”
Ich setze mich zitternd auf den Computersessel. Ohne zu überlegen drücke ich tatsächlich auf OK. Sofort scrollt eine Liste über den Bildschirm. Ich versuche, den Computer abzuschalten, aber anstatt mir zu gehorchen setzt er sein Fremdprogramm bei den Ausrufezeichen fort. Das ist also eine Endlosschleife. Genauer, eine Schleife, die der Computer bis zum 27. November, 24.00 Uhr, ununterbrochen abarbeiten wird. Dann kommt die Dunkelheit, eine verschlossene Wohnungstür … oder eine nicht mehr verschließbare, sollte ich sie zuvor offengelassen haben. Aber was hätte ich mit dem Offenlassen meiner Wohnungstür gewonnen, ohne elektronischen Code fürs Haus? Alle Zähler, Strom, Wasser ... einfach alles wäre für mich unerreichbar. Ich wäre tot, bevor ich tot wäre. Und Tanja auch.
Beim zweiten Durchlauf der Schrift beginne ich zu frieren. Ich bin nackt, so unendlich nackt. Mit starrem Blick renne ich an Tanja vorbei ins Bad und drehe den Hahn für das heiße Duschwasser bis zum Anschlag. Die auf mich einprasselnden Schauer röten mir augenblicklich die Haut. Dampf lässt den Spiegel erblinden. Die Tür geht auf. Tanja wirft ihr Nachthemd neben die Toilette. Ihr Lachen klingt fern. Bevor ich mich ihr richtig zugewendet habe, höre ich sie schreien. “Au, Mama, das kocht ja!” Ich komme wieder zu mir, regele die Wassertemperatur herunter und beginne, Tanja zu bespritzen. Die lässt am Waschbecken kaltes Wasser laufen, formt ihre Hände zu einer Schüssel und zielt auf meinen Bauch. “Treffer!” Ich quieke und bald sind wir außer Atem …

Wieder am Computer, beginne ich wie wild zu diktieren. ...

...

 Bestellung
zur Bestellung